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Die 24-Stunden-Polin
Plötzlich brauchen die alten Eltern eine Betreuung rund um die Uhr. Was tun? Eine Osteuropäerin ins Haus holen, preiswert und mehr oder weniger illegal?
Tim Wegner
07.10.2010

Es war Mitte Januar, da stand vor der Haustür von Nicole Werner eine Mittfünfzigerin mit zwei Koffern. Elegant, mit lackierten Fingernägeln, sehr nervös ­ Anna C. aus einem Vorort von Krakau. Ihr erster Satz: "Ich habe Angst." Frau Werner nahm die Hand der Frau: "Ich auch." Dann führte sie die Polin durch die Wohnung des Vaters: "Das ist jetzt deine Küche." Anna putzte erst mal alles.

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Dem pflegebedürftigen Egon Herberger gab sie zunächst nur aus großer Entfernung die Hand, aus Angst, etwas falsch zu machen. Der 64-Jährige hat mehrere Schlaganfälle erlitten, ist parkinsongeplagt und seit Jahren schwer depressiv.

Bis dahin war Nicole Werner unermüdlich die Treppe zwischen ihrer und des Vaters Wohnung rauf- und runtergerannt, hatte Windeln gewechselt, Berge von Bettwäsche gewaschen, war nachts raus, wenn die Wassersonde piepste, weil sich der Vater draufgelegt hatte. Ihr Kind hatte sich nicht mehr getraut, die Mutter etwas zu fragen, weil die nur immer sagte: "Ich kann jetzt nicht, ich muss runter zum Opa!"

"Mir kommt niemand ins Haus, ich schaff das alleine!"

Nicole Werner wusste, dass im Dorf Polinnen arbeiten, für 600 bis 800 Euro ­- illegal, wie man ihr flüsternd bestätigte. Aber das war nichts für sie. "Man weiß nie, wer Freund oder Feind ist. Braucht bloß jemand was der Arbeitsagentur stecken." Und sowieso: "Mir kommt niemand ins Haus, ich schaff das alleine!" Bis sie von Panikattacken überrollt wurde und nach Luft japste. Die 35-Jährige sah ein: Sie brauchte Entlastung.

Sie suchte im Internet, fragte bei lokalen Pflegediensten. Am Ende hatte sie Angebote zwischen 1250 und 4600 Euro für eine 24-Stunden-Betreuung. Sie entschied sich für die Vermittlungsagentur seniocare24: 1250 Euro monatlich für eine Polin ohne Deutschkenntnisse, dazu Kost und Logis und 850 Euro für die Vermittlerin.

Die ersten Wochen waren anstrengend, für beide. "Ich wusste, dass ich mich um Anna kümmern muss", sagt Nicole Werner, "sie kommt in ein fremdes Land, kann die Sprache nicht, hat einen schweren Pflegefall ­ das ist eine ungeheure emotionale Belastung." Und Anna war oft verzweifelt: Was der Egon wieder angestellt hat! Heimlich Kaffee gekocht oder Kekse geklaut, wo er sich doch wegen seines gelähmten Kehlkopfdeckels lebensbedrohlich verschlucken könnte ­ und sie sei schuld! "Du bist nicht schuld", sagte Nicole. "Lass ihn machen, er ist ein Dickkopf."

Mittlerweile lenkt Anna Egon auf ihre kultivierte Art: "Egon, zu Tisch bitte", ruft sie, und ihr Schützling kommt angeschuffelt. Egon isst leidenschaftlich gern, er kann aber schlecht schlucken. "Langsam", mahnt Anna, wenn Egon gar zu hastig isst.

"Computer" nannten ihn die Kollegen einst, weil er sich alles merken konnte. Lang her. Erst die Scheidung, dann die Depression, schließlich die Schlaganfälle. Die Tochter entschied, auch nach ihrer Heirat beim Vater wohnen zu bleiben. Wie sie so erzählt, macht Egon den nudelvollen Mund auf und weint, dass es ihn schüttelt. "Ist gut", sagt die Tochter. Anna bringt eine Serviette und legt ihm die Hand auf die Schulter.

Er braucht keine Windel mehr, sitzt wieder am Tisch -­ "alles Annas Verdienst".

Egon weint viel, nicht immer mit Tränen. "Das ist seine Art, Emotionen auszudrücken", erklärt die Tochter. Aber er habe neuen Lebensmut, trotz der Depression. Er braucht keine Windel mehr, sitzt wieder am Tisch ­- "alles Annas Verdienst".

Es klingelt: Theresa und Sofia, zwei andere Polinnen aus dem Dorf, holen Anna und Egon zum Spaziergang ab. Auch Theresa hat ihren Schützling dabei, einen stummen 80-jährigen Herrn. Eine wundersame Truppe macht sich da auf den Weg. Vorneweg Egon, der seit Neuestem seinen Rollstuhl ein Stück selbst schiebt; dann die drei Polinnen ­ keine Hausmütterchen mit Kittelschurz, sondern schick zurechtgemacht, mit Sieben-Achtel-Hosen und Käppi auf den gefärbten Haaren. Mit ihnen schwebt eine Parfümwolke durchs Dorf.

Stolz erzählt Anna, dass sie Egon von 48 auf 58 Kilo gekriegt hat. "Er ist zufrieden, er hat Pflege nonstop." Plötzlich rennt sie los, da vorn, der gefährlich rangierende Bagger, und Egon guckt einfach nicht! Es ist eine dauernde Anspannung. Abends hat sie zwei, drei Stunden frei ­ dann fährt sie mit den anderen Polinnen Rad ­, aber nie einen ganzen Tag für sich. Manchmal sei sie sehr, sehr müde. Die Frauen sind Städterinnen, so gern kämen sie mal nach Baden-Baden, ins Museum, ins Theater.

Anna C. ist Witwe. Ihr Mann war Schreiner, nach dem Abitur hatte sie ihm die Buchhaltung gemacht. Vor ein paar Jahren starb er innerhalb weniger Wochen an Krebs. "Du bist mutig", sagte eine Freundin vor Annas Abfahrt nach Deutschland. Es ist die Verzweiflung, die sie zu diesem Mut treibt. Die Witwenrente reicht nicht, auch die Familien von Sohn und Tochter kommen finanziell nicht aus.

Bitter, dass die polnische Personalagentur, bei der die Frauen zunächst angestellt waren, sie um ihren Lohn betrog. Von den 1250 Euro wurden ihnen am Ende nur 250 ausgezahlt. Jetzt haben sie die Firma gewechselt. Nach Abzug von Steuern, Sozialabgaben und Vermittlungshonorar bleiben ihnen etwa 625 Euro. Ach, das Geld! Die Frauen schweigen. Egon ist in seinen Rollstuhl gestiegen, Theresas Schützling eingenickt. Die Karawane verlässt den heißen Feldweg, taucht in den Wald ein.

Unterdessen gönnt sich Nicole Werner auf dem Balkon einen Kaffee. Am frühen Morgen war sie putzen, in einer Forschungseinrichtung in der Stadt. Sie freut sich auf den ersten Urlaub seit Langem, eine Woche allein mit ihrem Mann. Der ist Netzwerktechniker, die Familie muss rechnen. Egons Rente ­ 1300 Euro ­ geht weg für Annas Lohn, von den 400 Euro Pflegegeld müssen das Essen für Egon und Anna, Strom und Wasser bestritten werden, die Zuzahlungen für Logopädie, Krankengymnastik, die teuren neurologischen Medikamente. Die junge Familie buttert zu.

"Die braucht keinen Sprachkurs, die versteht alles, die nickt immer."

Aber Nicole Werner ist glücklich. Und dankbar. Zu Ostern haben sie Anna einen Flug nach Polen bezahlt, die Busfahrt hätte zwei Urlaubstage gefressen. Und einen Deutschkurs an der Volkshochschule, 25 Abende. Im Dorf hieß es: Was, du zahlst der einen Sprachkurs? Die wird für ihre Arbeit bezahlt, soll sie gucken, wie sie klarkommt. "Das ist nicht meine Einstellung", sagt Nicole Werner. Ein anderer, der ebenfalls eine Polin hat, sagte: "Die braucht keinen Sprachkurs, die versteht alles, die nickt immer."

Anna braucht die Sprache. "Egon, nein!" So ruft sie ihn zur Ordnung. Aber er tut, als ob er nichts hört, und grinst. Also brütet Anna über dem Lexikon, sagt schließlich: "Ich bestimme." Und Egon, der seit den Schlaganfällen nicht mehr sprechen kann, nimmt ein Papier und schreibt: "... nicht!" Jesusmaria, sagt Anna, wenn ihr ein Wort partout nicht einfallen will.

Nur eins traut sich Anna noch immer nicht: allein zum Metzger. "Da kriegt sie fast keine Luft mehr, obwohl jeder sagt: Ach, Sie sind die Anna, wo beim Egon aufpasst", erzählt Nicole Werner. Aber beim Schlecker war sie jüngst, ganz allein, Haarfarbe für den nachgedunkelten Ansatz kaufen. Den Großeinkauf im Supermarkt machen die beiden Frauen gemeinsam. Vorher sitzt Anna mit dem Lexikon, schreibt "Herr Propper" auf die Liste.

Der Spaziertrupp ist zurück, Egon verzieht sich auf sein Bett, guckt Sport, wie immer. Anna setzt sich an den Esstisch mit der Wachstuchdecke. Ob sie Heimweh hat? Das Wort kennt sie nicht. Also Lexikon: Hat sie tesknota? Oder nostalgia ­ Sehnsucht? Anna ringt um Fassung, weint dann doch, dreht sich weg, flüstert dreimal "Entschuldigung", eilt nach einem Taschentuch. "Alle Kollegin traurig. Aber wir muss arbeiten."

Plötzlich steht Egon im Raum, weint. Er hält Anna seinen Karoblock hin, da steht: "Ich hoffe, dass Anna ganz bei mir bleibt und nur zu Besuch nach Polen reist." Anna ist verlegen, streng sagt sie: "Du musst auf deine Gesundheit achten." Mag Egon die Anna? Er nickt. Und weint wieder. Anna schilt ihn: "Du musst lachen und zufrieden sein!" Egon schreibt: "Lachen kann ich wahrscheinlich nicht mehr. Das letzte Mal habe ich drei Jahre nach meiner Hochzeit gelacht. Jetzt geht es mir jeden Tag besser."

Ja, sagt Anna: "Kranker Mensch muss wissen, dass er ist wichtig. Ich hab ihm Lust gemacht auf Lebe. Das ist Psychologia!" Anna lächelt. Egon lächelt auch. Er weiß nicht, dass Anna nur ein Jahr bleiben darf. So sagt es die "Verordnung über die Zulassung von neu einreisenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung".

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