Wünsche
Warum Wünsche heilsam sein können
Wünschen setzt so viel in Gang: Fantasie, Hoffnung, Veränderung, sagt Kinderbuchautorin Kirsten Boie. Ein Interview übers Wünschen in der Welt und in ihren Büchern - von Rollschuhen bis zum Weltfrieden
Wünschen ist ein Anfang: von Fantasie, Hoffnung und Veränderung. Kinder tun das noch ohne Zögern
Catherine Falls Commercial / Getty Images
19.12.2025
6Min

chrismon: Frau Boie, wir leben in angespannten Zeiten. Ziehen wir uns mit unseren Wünschen jetzt vor allem ins Private zurück, wo das Leben häufig noch einigermaßen funktioniert?

Kirsten Boie: Man kann das nicht verallgemeinern. Ich habe eine Freundin, die schwer an Krebs erkrankt ist, und natürlich wünscht sie sich vor allem, gesund zu werden. Für die Menschen in der Ukraine steht ein Ende des Krieges ganz oben auf der Wunschliste, während das bei uns für die meisten erst sehr viel später kommt. Ich denke, unsere Wünsche sind sehr unterschiedlich, abhängig von der jeweiligen Lebenssituation.

Kirsten Boie

Kirsten Boie, geboren 1950, ist Kinder- und Jugendbuchautorin. Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Die "Möwenweg"-Bücher und die Reihe "Der kleine Ritter Trenk" gehören zu ihren beliebtesten Werken. 2015 gründete Boie mit ihrem Mann die Möwenweg-Stiftung, die unter anderem Kinder in Eswatini (früher Swasiland) unterstützt. Die Autorin lebt bei Hamburg.

Können Wünsche auch mal eine heilsame Kraft haben?

Da bin ich mir sicher! Solange ich wünsche, glaube ich, dass der Wunsch vielleicht in Erfüllung gehen kann – und gerade in schweren Zeiten kann das helfen und stärken.

Wünschen Kinder anders als Erwachsene?

Ich denke, ihre Wünsche wechseln schneller. Kinder haben oft ganz konkrete, handfeste Wünsche, die auch von der Werbung beeinflusst sind.

Als mein Sohn klein war, hatte er den klaren Wunsch, eines Tages auf den Mond zu fliegen, von Machbarkeit war da keine Rede, er fragte: Mama, was muss ich dafür tun? Sind Kinder manchmal wilder und ungefilterter in ihren Wünschen als wir Erwachsene?

Das ist möglich. Wir Erwachsene zügeln unsere Fantasie eher, lassen unsere Wünsche nicht so frei herumschwirren, gehen rationaler damit um.

Können Sie sich erinnern, was Sie sich als Kind gewünscht haben?

Ich gehöre zu der Generation, die materiell vergleichsweise wenig bekommen hat. Meine Eltern hatten nicht viel Geld, das änderte sich erst, als ich elf oder zwölf war. Meine Wünsche waren bescheiden, und es dauerte sehr lange, bis sie erfüllt wurden. Ich habe mir zum Beispiel sehnlichst Rollschuhe gewünscht, es verging eine Ewigkeit, bis ich sie bekommen habe. Schließlich hatte ich sie, hätte aber gern ein anderes Modell gehabt, mit Gummirollen. Meine waren aus Metall, mit Riemen, die um den Schuh geschnallt wurden, sehr einfach, aber ich fand es trotzdem wunderbar, sie zu haben. Ich habe nicht darunter gelitten, dass ich so lange warten musste.

Es gibt den schönen Satz: Wen Gott strafen will, dem erfüllt er alle Wünsche.

Das kann man so sehen. Wenn man Wünsche offen hat, hält das die Fantasie in Gang. Ich habe mir damals vorgestellt, wie die Rollschuhe aussehen könnten, welches Modell ich gern hätte. Meine Wünsche hatten etwas Besonderes, sozusagen Charakter, gerade weil sie nicht sofort erfüllt wurden.

Heute bekommen Kinder ihre Wünsche deutlich schneller erfüllt, zumindest in der westlichen Welt.

Ich finde es eher langweilig, sich etwas zu wünschen, und übermorgen hat man es.

"Wenn man Wünsche offen hat, hält das die Fantasie in Gang"

Kirsten Boie

Gibt es in Ihren Geschichten Wünsche, die direkt aus Ihren eigenen Kindheitserfahrungen stammen?

Ich glaube, so direkt ist das beim Schreiben nie. Nehmen Sie meine Bücher aus der Sommerby-Reihe …

… da geht es um drei Geschwister, die in der ländlichen Küstenstadt Sommerby eine Menge Abenteuer erleben.

Genau. Martha, die Älteste, ist gut zwölf, ihre beiden Brüder Mikkel und Mats sind einige Jahre jünger. Logischerweise unterscheiden sich deren Wünsche schon aufgrund ihres jeweiligen Alters massiv. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum mir das Schreiben so viel Spaß macht: Ich kann ganz verschiedene Personen mit ihren ganz verschiedenen Wünschen einfach durchspielen – vom Dreirad bis zum Frieden in der Welt.

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Gibt es Wünsche Ihrer Leser, die Sie beim Schreiben bewusst nicht erfüllen, weil ein zu glattes Ende die Komplexität des Themas zerstören würde?

Da fällt mir mein Buch "Heul doch nicht, du lebst ja noch" ein. Wir würden als Leser gern wissen, wie das Leben der Figuren nach dem Krieg weitergeht, aber genau das erfahren wir eben nicht. Oder "Nicht Chicago. Nicht hier" …

… da wird ein 13-jähriger Junge in seiner Schule auf üble Weise gemobbt.

Auch hier bleiben wir als Leser hilflos zurück und wünschen uns ein anderes Ende. Genau das ist aber der Sinn solcher Bücher: dass sie uns zwingen, darüber nachzudenken, wie die Geschichte weitergehen könnte.

Was sollen Kinder aus Ihren Büchern mitnehmen, bewusst oder unbewusst?

Der Gedanke, dass Kinder aus meinen Büchern etwas mitnehmen sollen, ist schon relativ kühn. Wenn auch sehr, sehr schön! Warum soll es nicht auch Bücher geben, die beim Lesen oder Vorlesen einfach nur Spaß machen? Und die Kinder dazu motivieren, noch zu einem weiteren Buch zu greifen, durchaus auch von anderen Autoren? Das wäre ein Wunsch von mir. Aber natürlich gibt es auch Bücher, bei denen ich mich freuen würde, wenn die Kinder – zum ersten Mal vielleicht – auf ein Thema gestoßen werden, über das sie vorher noch nie nachgedacht haben. Genau das versuche ich mit meinen Büchern über die Nachkriegszeit, also die Zeit nach 1945.

Verspüren Sie beim Schreiben manchmal den Wunsch, eine Figur vor Schmerz und Ungerechtigkeit zu bewahren?

Das klingt jetzt wahrscheinlich ein bisschen grausam, aber: Nein, den Wunsch habe ich nicht. Tatsächlich bin ich mir ja immer bewusst, dass die Figuren fiktiv sind, dass ich sie erfinde, damit sie in der jeweiligen Geschichte eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Und da muss eine Figur manchmal Schmerz und Ungerechtigkeit erfahren.

Sie haben mittlerweile mehr als 100 Bücher geschrieben. War es ein Lebenswunsch von Ihnen, Schriftstellerin zu werden?

Als Kind und Jugendliche habe ich mir das gewünscht. Ich fand es eine tolle Vorstellung, Bücher zu schreiben, habe schon als Kind Geschichten entworfen, auf Butterbrotpapier. Als ich dann anfing, Literaturwissenschaft zu studieren, mit Anfang 20, habe ich den Wunsch begraben. Ich sah, wie grandios andere Leute schreiben, und dachte, dass ich da sowieso nie heranreiche.

"Ich wünsche mir, dass meine Bücher einfach nur Spaß machen"

Kirsten Boie

Der Wunsch hat der Realität in Ihrer Wahrnehmung nicht standgehalten.

Leider nicht. Als mein Mann und ich unser erstes Kind adoptiert hatten, 1983, war das Jugendamt der Meinung, dass man entweder nur Mutter oder berufstätig sein kann. Ich durfte nach der Babypause nicht mehr in meinen Beruf als Lehrerin zurück. Dabei hätte ich mir das so sehr gewünscht, ich fand es damals total ungerecht, nicht arbeiten zu dürfen. Ich habe dann überlegt, was ich heimlich tun könnte, und habe angefangen zu schreiben. Die ersten Sätze sind mir eingefallen, als ich meinem Sohn die Flasche gegeben habe. So sind die ersten drei Kapitel meines Buches "Paule ist ein Glücksgriff" entstanden, es ist vor 40 Jahren erschienen. Ich bin also nicht zum Schreiben gekommen, weil ich es mir gewünscht habe, sondern weil ich es als Möglichkeit sah, Geld zu verdienen.

Aber als Kind und Jugendliche hatten Sie den Wunsch bereits gehabt, das hat vielleicht geholfen.

Im Unterbewussten war dieser Wunsch vermutlich immer da und hat irgendwie weitergearbeitet. Aber ich habe ihn nicht bewusst in eine Richtung gelenkt. Die Situation, ohne Arbeit zu Hause zu sitzen, hat den Wunsch dann bestärkt.

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Haben sich Ihre Wünsche im Laufe Ihres Lebens verändert?

Ich denke schon. Früher fand ich es immer seltsam, wenn Leute gesagt haben, sie wünschten sich vor allem, gesund zu sein, für mich war das selbstverständlich. Heute, mit 75, ist Gesundheit mein größter Wunsch. Außerdem wünsche ich mir, dass ich die Bücher, die ich noch in meinem Kopf habe, verwirklichen kann.

Wenn Sie einen Wunschknopf hätten, den man nur einmal im Leben drücken darf – was würden Sie sich wünschen?

Grandiose Idee! Ich würde mir Frieden wünschen, für alle Menschen, für alle Kinder auf der Welt. Aber wenn ich an mich und meine persönlichen Wünsche denke, finde ich die Idee mit dem Wunschknopf sehr gefährlich, ich würde ihn nie betätigen.

Warum nicht?

Weil die Entscheidung einmalig und endgültig ist. Ich drücke den Knopf heute, wünsche mir etwas und stelle morgen fest, dass mir etwas anderes viel wichtiger ist. Dann gräme ich mich über die falsche Wahl. Also: bloß nicht!

Können Sie uns einen persönlichen Wunsch verraten?

Da muss ich leider passen. Unsere Wünsche sind wie all unsere Gedanken und Gefühle ganz privat – und das ist auch gut so! Ich verrate Ihnen höchstens einen kleinen schnöden Wunsch: ein Stück Schokoladentorte, damit kann ich mich immer anfreunden.

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