Bergsturz in der Schweiz
Was wir aus der Katastrophe lernen können
Ein Dorf wird evakuiert – Stunden später stürzt eine gewaltige Masse aus Eis und Geröll ins Tal. Die Tragödie zeigt: Wissenschaft, Politik und klare Kommunikation können Leben retten. Ein Kommentar
Luftaufnahme einer massiven Lawine, die durch den Abbruch des Birchgletschers ausgelöst wurde, zeigt die Zerstörung, die sie anrichtete, als sie auf den Talboden niederging und das Dorf Blatten in der Schweiz zerstörte
Geschätzt neun Millionen Tonnen an Geröll haben große Teile des Dorfes Blatten unter sich begraben
Jean-Christophe Bott / picture alliance / KEYSTONE
Tim Wegner
03.06.2025
3Min

Die Bilder sind überwältigend. Eine Masse aus Geröll und Eis donnert ins Lötschental. Unten angekommen wirbelt eine Staubwolke so hoch empor, als wollte sie sich mit den Wolken verbinden, die vergangenen Mittwoch tief hingen. Der Bergsturz wirkt wie ein Symbol für die Zeit, in der wir leben. Alles, so scheint es, geht danieder.

90 Prozent des Dorfes Blatten sind zerstört, über ihnen türmt sich der Schutt teilweise fast 100 Meter hoch. Einige der wenigen Häuser, die das Geröll verschont hat, stehen im Wasser, weil die Gesteinsmassen das Wasser der Lonza gestaut haben. 300 Menschen haben ihr Zuhause verloren. So eine Katastrophe hat nichts Gutes, aber wir können aus ihr lernen.

Zum Beispiel, dass die Wissenschaft ein echter Segen für die Menschheit ist. Seit Jahren stand der Birchgletscher oberhalb des Dorfes unter Beobachtung. Denn der Gletscher wanderte talwärts, seit 2019 war seine Front rund 50 Meter vorgestoßen. Da auch andere Gletscher schrumpfen, beobachteten die Forschenden die Entwicklung des Birchgletschers mit großer Sorge. Sie sahen genau hin. Als sich am Kleinen Nesthorn, einem Berg oberhalb des Gletschers, immer mehr Steine, Felsen und Geröll lösten und am Gletscher stauten, schlugen die Forschenden Alarm. Und die Behörden nahmen die Warnungen ernst. Am 19. Mai 2025 mussten alle Einwohner des Dorfes Blatten den Ort innerhalb von zwei Stunden verlassen.

Keine zehn Tage später brach der Damm aus Eis, geschätzt neun Millionen Tonnen Geröll stürzten ins Tal. Zum Vergleich: Im Kaukasus starben am 20. September 2002 beim Kollaps des Kolka-Karmadon-Gletschers im Dorf Nischni Karmadon 125 Menschen. So eine Tragödie blieb der Schweiz erspart. In Zeiten, in denen die Wissenschaft systematisch angefeindet und Politik und Verwaltung lächerlich gemacht und als Kostenfaktor und Bürokratiemonster angeprangert werden, ist das eine gute Nachricht inmitten der Katastrophe.

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Warum genau es im Lötschental zum Bergsturz kam, ist nun ebenfalls ein Fall für die Forschung. Die Klimaerwärmung schaffe neue Voraussetzungen für Bergstürze, erklärt beispielsweise der Glaziologe Rainer Prinz von der Universität Innsbruck. "Der Klimawandel hat uns in den vergangenen Jahrzehnten den Permafrost so aufgetaut, dass wir instabile Hänge vorfinden", sagte er dem Deutschlandfunk und meint damit, dass einst dauergefrorene Böden tauen, mit etwa 0,4 Grad Celsius pro Jahrzehnt, Tendenz steigend. Ein Triggerereignis wie etwa starke Niederschläge könnten einen Bergsturz auslösen.

"Die Alpen, Sehnsuchtsort für viele Menschen, waren immer voller Gefahren. Nun kommen neue hinzu"

Im Hintergrund schwingt sie also mit, die menschengemachte Erderwärmung, die längst keine abstrakte Bedrohung am Horizont mehr ist, sondern eine Gefahr im Hier und Jetzt. Insofern haben die Bilder aus der Schweiz eine weitere Symbolik: Vorsorge hilft und rettet Menschenleben. Klimaschutz kann leider nicht mehr nur heißen, so schnell wie möglich keine Treibhausgase mehr auszustoßen. Es geht auch um Anpassung, um den Schutz der Menschen: Wir müssen die Bergwelt im Blick behalten. Die Alpen, Sehnsuchtsort für viele Menschen, waren immer voller Gefahren. Nun kommen neue hinzu.

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Wir können noch etwas vom Bergsturz in Blatten lernen. Krisen verlangen nach Führung, Mitgefühl und Orientierung. Franziska Biner ist erst seit wenigen Monaten Finanzministerin im Kanton Wallis und muss die Folgen des Desasters bewältigen. Die 38-Jährige erfährt in der Schweiz viel Anerkennung für ihren Führungsstil. Sie sei klar in ihrer Haltung und kommuniziere ebenso klar, dass in Anbetracht der Wassermassen, die sich am Geröll stauen, weitere Evakuierungen erforderlich sein könnten. Für die Menschen in der Region muss das wie eine Zumutung klingen – einerseits. Andererseits aber ist Biner damit nur ehrlich. Gelobt wird die Politikerin auch für ihr ehrlich empfundenes Mitgefühl. Sie zeigt Emotionen und man merkt ihr an, wie sehr es sie bewegt, wenn sie sagt: "Wenn eine Katastrophe passiert, stehen wir zusammen."

Im Tal scheinen solche Worte zu fruchten. Wer die Internetseite des Hotels Breithorn besucht, kann dort lesen: "Aufgrund der Bergsturz-Katastrophe in Blatten und Ried im Lötschental wurde unser Haus, ein Lebenswerk mehrerer Generationen, komplett zerstört und tief unter Geröll begraben." Aber eben auch: "Wir sind getragen von vielen trostspendenden Solidaritätsbekundungen und finden Kraft im Glauben an die Zukunft – für das Lötschental und für uns."

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