"Manche Frauen kommen erst hier zur Ruhe"
Ælfleda Clackson
Liebe im Ukraine-Krieg
Bleiben oder gehen?
Was machen zwei Jahre Krieg mit ukrainischen Paaren? Lässt sich eine Fernbeziehung über die Grenzen aufrechterhalten? Unsere Autorin hat Ukrainierinnen und eine Psychologin befragt
Amal Berlin
11.09.2024
8Min

Olena Rudenko (35):

Mein Mann Andriy sorgte dafür, dass ich mit unseren beiden Kindern gleich nach Beginn der russischen Invasion im März 2022 Kiew verließ. Unsere Tochter war damals 13, unser Sohn sechs Jahre alt. Andriy blieb in der Ukraine, um sich dem Zivilschutz der Hauptstadt anzuschließen. Er bestand darauf, dass wir ausreisen, weil er glaubte, er würde sich wohler fühlen, wenn die Familie in Sicherheit wäre.

Aber ich fühlte mich nicht wohl. Ich erinnere mich überhaupt nicht an den ersten Monat der Trennung. Die Bomben auf Kiew, die Reise nach Polen mit den beiden Kindern und dann nach Deutschland, das hat mich sehr gestresst. Mein Sohn und meine Tochter weinten ständig und wollten einfach nur nach Hause. In der Zeit ­habe ich kaum mit Andriy gesprochen. Ich dachte, wenn ich die Kinder nicht an ihren Vater erinnerte, würde es für uns alle leichter. Ich habe meine ganze Energie in den Papierkram gesteckt, ­habe nach einer Wohnung gesucht und mich um die Kinder gekümmert. Die gingen bald in Deutschland zur Schule. Aber vor allem meiner Tochter fiel es schwer, sich hier einzugewöhnen. Sie hatte Panik­attacken, konnte sich nicht aufs Lernen konzentrieren, zog sich zurück und sprach kaum. Sie brauchte die Hilfe eines Psychologen. Der Vater schien für einige Monate aus unserem Leben zu verschwinden.

Aber der erste Schock verging, ich wurde ruhiger. Und ich wollte unbedingt Andriys Stimme hören. Allmählich wurden Telefonanrufe und Videos zum Teil unseres Alltags. Für mich waren diese Gespräche eine Offenbarung: Wir hatten früh geheiratet und waren nie so lange getrennt gewesen, aber erst jetzt, über die große Entfernung hinweg, fingen wir an, wirklich offen und aufrichtig zu kommunizieren.

Er hatte mir zum Beispiel vorher nie von ­seiner Kindheit erzählt. Vom ­alkoholabhängigen Vater, der seine Mutter und ihn schlug. Er erzählte, dass er bis zu seinem 15. Lebensjahr nachts kaum schlief, um zu hören, ob sein betrunkener ­Vater nach Hause gekommen war und ob er seine Mutter verprügelte. Bis dahin hatte ich nur gewusst, dass Andriy einen Vater hatte und dass er ­gestorben war. Wir hatten zusammen sein Grab besucht. Aber ich wusste nicht, wie unglücklich und voller Angst die Kindheit meines Geliebten ­gewesen war.

In ihrer Kolumne "Transitraum" schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi alle zwei Wochen über Krieg, das Flüchtlingsdasein und ihre Heimat

Irgendwann fing auch ich an, mit meinem Mann über schmerzhafte ­Themen zu sprechen. Meine Mutter hat immer versucht, Streit durch Schreien zu beenden. Seither kann ich keine Brüllerei mehr ertragen. Wenn also mein emotionaler Andriy etwas Lautes und Scharfes sagte, ärgerte ich mich sofort und verstummte für längere Zeit. Ich erkannte, dass dies nur ein Versuch war, mehr Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen. Jetzt verstand ich, ­warum offene Gespräche zwischen uns bisher unmöglich gewesen waren. Und ich spürte eine Nähe, die es vorher nicht gegeben hatte.

Vor drei Monaten bin ich mit den Kindern in die Ukraine zurückgekehrt, obwohl Andriy damit nicht einverstanden war. In Kiew heulen immer noch die Sirenen, es gibt immer noch Strom- und Wasser­ausfälle. Aber ich hatte Andriy durch die Trennung noch mehr liebgewonnen und fürchtete, dass unsere Kinder sich so sehr an ihr neues Leben gewöhnen, sich an neue Freunde binden und immer weniger daran denken, zu ihrem Vater zurückzukehren.

Galyna Matsiuk (55):

Ich habe mein ganzes Leben in Charkiw verbracht. Ich habe früh geheiratet, ­einen Sohn und eine Tochter zur Welt gebracht, als Buchhalterin gearbeitet und mich um meine Familie gekümmert. Die Beziehung zu meinem Mann war gleichberechtigt, wie die aller anderen. Wir kauften eine Datscha, unser Sohn heiratete, wir warteten auf Enkelkinder. Als der Krieg ausbrach, wollte ich mein Heimatland nicht verlassen. Erst ein Jahr später, 2023, als die ständigen Bombardierungen unerträglich wurden, zog ich mit meiner 20-jährigen ­Tochter nach Deutschland.

In Berlin litt ich unter Panikattacken. Ich musste immer wieder daran denken, wie ­eine Granate einen vor uns fahrenden Bus traf, der Menschen aus Charkiw herausbrachte. Wie die Menschen schrien. Es war nicht leicht im Flüchtlingsaufnahmezentrum im ehemaligen Flughafen Tegel. Anderthalb Monate lang lebten wir dort unter Hunderten von Flüchtlingen. Aber ich hatte Glück und fand schnell eine Wohnung für meine Tochter und mich. Aller­dings lernte sie einen Mann ­kennen und zog bei ihm ein. Ich blieb allein zurück.

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Ich war in ständigem Kontakt mit meinem Mann. Der wollte Charkiw nicht verlassen, obwohl er das Recht dazu hatte – er war bereits 60 Jahre alt. Jeden Tag telefonierten wir, redeten über die Hausarbeit und unterstützten uns gegenseitig. Doch als ich endlich etwas freie Zeit hatte, begann ich, über mein Leben nachzudenken. Ein Psychologe half mir dabei. Ich ­hatte ihn aufgesucht, er sollte mir helfen, den Stress zu bewältigen.

In den psychologischen Sitzungen ging es auch um die Beziehung zu meinem Mann. Mir wurde klar, dass ich nie für mich selbst gelebt hatte. Ich habe mich ­immer um andere gekümmert. Und ich habe nie darüber nachgedacht, was meine eigenen Bedürfnisse sind. Familie und Arbeit kamen immer an erster Stelle. Selbst die Tatsache, dass mein Mann Alkoholiker ist, war für mich kein Problem. Ich glaubte, dass es so sein sollte, dass Liebe ist, für andere da zu sein.

"Du hättest nicht geboren werden dürfen"

Galyna Matsiuks Mutter

Ich bin das dritte von vier Kindern. Meine Eltern haben mich zu entfernten Verwandten geschickt, als ich drei Jahre alt war. Vier Jahre lang habe ich meine Mutter nicht gesehen. Sie holte mich erst kurz vor der Einschulung nach Charkiw. "Ich wollte sogar abtreiben", sagte meine Mutter einmal zu mir, "du hättest nicht geboren werden dürfen."

In Deutschland lernte ich ein anderes ­Leben kennen. Ich sah ältere Paare händchen­haltend umherlaufen. In einem Café ­saßen elegante deutsche Frauen und tranken ­Kaffee. Sie ­hatten Zeit für sich selbst. Ich begann, Deutsch zu lernen, durch die Stadt zu gehen, Museen zu besuchen, Freundschaften zu schließen, mir die Nägel zu machen, mich zu schminken und zu frisieren. All die Dinge, für die ich vorher keine Zeit hatte und die ich für unnötig hielt. Auf Anraten einer Psychologin begann ich auch, ein Tagebuch zu führen.
In dieses Tagebuch schrieb ich unter anderem, dass ich mag, wie die Menschen in Deutschland leben, wie sie sich selbst und ihre persönlichen Grenzen respektieren und wie herzlich sie mit Kindern umgehen. Ich sehe so viele ­Menschen mit Tattoos um mich ­herum, und vielleicht könnte ich mir selbst ein kleines ­Tattoo stechen lassen. Ich schrieb, dass mir jetzt klar ist, dass es zwischen mir und meinem Mann nie Liebe gab. Ich fühlte mich als Ehefrau, als Mutter, aber nicht als Geliebte.

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Ich mache mir immer noch Sorgen um ­meinen Mann und meinen Sohn in ­Charkiw und um meine Tochter, die in Berlin ihr ­eigenes Leben führt. Aber jetzt erkenne ich auch, dass ich nicht mit dem leben muss, was ich nicht ändern kann. Alles, was ich tun kann, ist, meine Familie zu unterstützen und in Kontakt zu bleiben.

Ich war noch nie vorher im Ausland und hätte mir nie vorstellen können, dass meine erste Reise – wenn auch eine erzwungene unter tragischen Umständen – mein Leben zum Besseren verändern würde. Am Telefon habe ich meinem Mann gesagt, dass ich nicht vorhabe, in die Ukraine zurückzukehren.

In beiden Protokollen wurden alle Namen geändert.

"Manche Frauen kommen erst hier zur Ruhe"

chrismon: Viele ukrainische Paare müssen ihre Beziehung jetzt schon seit über zwei Jahren aufs Telefon beschränken. Was sollen sie zueinander sagen – und wie?

Olga German: Die Situation ist ja für alle schwer: für die Männer, die in der Ukraine geblieben sind, und für Frauen mit Kindern, die gezwungen waren, im Ausland Zuflucht zu suchen. Am wichtigsten ist jetzt, dass man versucht, sich gegenseitig zu unterstützen. Was kann ich für dich tun? Wie kann ich dich zum Lachen bringen? Was wärmt dein Herz? Wer so fragt, wird vom Gegenüber auch ähnliche Fragen zurückbekommen.

Privat

Olga German

Olga German, Psychologin, geboren 1988, lebt in Berlin. 2022 kam sie mit ihrer Familie aus Kiew nach Deutschland. Sie arbeitet bei der ­interkulturellen Kinder- und Jugendhilfe ­LebensWelt und als Freiwillige bei der Flüchtlingshilfs­organisation Be an Angel e. V.

Stimmt es, dass man es ungefähr sechs ­Monate aushält, den anderen nicht zu sehen – und danach wird es schwierig?

Sechs Monate sind ein Durchschnittswert. Manche trennen sich aber schon nach drei Monaten. Es geht nicht darum, wie lange man voneinander getrennt ist, sondern wie man in dieser Zeit kommuniziert. Es gibt auch Paare, die sich schnell und aus einer aufgewühlten Situation heraus trennen. Aber wer in einer akuten Depression steckt oder große Angst hat, kann keine nüchterne Entscheidung ­treffen. Ich rate den Betroffenen, erst zur ­Ruhe zu kommen.

Manche schaffen es, trotz des langen ­Getrenntseins ihre Liebe zu bewahren. ­Andere nicht. Warum?

Es hängt alles davon ab, wie tief die Beziehung vorher war. Wenn ein Paar es gewohnt ist, sich gegenseitig zu unterstützen, sich für die ­Gefühle des anderen zu interessieren und Grenzen zu respektieren, dann kann es gehen. Es ist für alle Männer schwer, sich das Leben als geflüchteter Mensch vorzustellen – und für alle Frauen schwer, die Realität an der Front nachzufühlen.

Was hilft?

Aufrichtig und offen über Gefühle sprechen. Auch über verletzte Gefühle von früher, vieles kommt ja jetzt wieder hoch. Wie der Fall von Olena und Andriy zeigt, kann man das auch auf die Ferne schaffen. Aber wer jahrelang ­seine Probleme verheimlicht hat, wer nie ­seine Wünsche formuliert hat – der oder die hat es jetzt schwer.

Hat die erzwungene Migration manchen ukrainischen Frauen dabei geholfen, zu verstehen, was sie wollen?

Ja, Galyna ist nicht die Einzige. Die erzwungene Migration hat vielen Frauen vor allem eines gegeben: Ruhe. Sie waren plötzlich ­allein – ohne Routinen, ohne Verwandte, ­ohne ihren Freundeskreis, das war hart. Aber gleichzeitig fielen auch die Erwartungen und Urteile weg. Sie haben neu über ihre Beziehungen nachgedacht und manche haben zum ersten Mal ihre eigenen Wünsche gehört. Sie haben sich neu erfunden. "Ich tue es, weil ich es tun muss" – dieser Satz hat sich bei ­manchen verwandelt in: "Ich tue es, weil ich es gerne tue."

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Haben die Frauen kein schlechtes Gewissen, wenn sie sich trennen? Der Mann kämpft an der Front, und ich tue, was ich gerne tue . . .

Jeder Mensch hat ein Recht auf Glück und Selbstverwirklichung, auch in schweren Zeiten. Aber ja: Es gibt schlechtes Gewissen. Manchen Frauen hilft dann, wenn sie sich freiwillig engagieren für die Männer im Krieg, zum Beispiel, indem sie Hilfsgüter sammeln.

Trennen sich auch Männer von ihren Frauen?

Ja, das kommt auch vor. Wenn man in Lebens­gefahr ist, denkt man sehr intensiv über das Leben nach. Wenn dann die Frau andere Ansichten hat – zum Beispiel nicht so patriotische –, fühlen manche Männer sich einsam und verraten. Und suchen eine Frau, die ihre Werte teilt. In dieser Ausnahmesituation ­suchen ­alle Menschen eher Gleichgesinnte. Wir sagen: Wir suchen Menschen, die am selben Ufer stehen.