Ist Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft? Ja, ganz eindeutig! Als ich am Freitagabend an der Hauptwache in Frankfurt aus der U-Bahn stieg, gab es kein Vertun mehr: Die Europameisterschaft hatte begonnen. Menschen waren in Trikots unterwegs, hatten sich geschminkt oder sich in Deutschlandfahnen gehüllt. Gerade junge Leute schienen nur auf diesen Tag gewartet zu haben. Viele von ihnen haben, dem Aussehen nach und soziologisch gesprochen, einen Migrationshintergrund.
In Frankfurt am Main ist das nicht weiter der Rede wert; fast die Hälfte der Menschen hier hat eine Einwanderungsgeschichte, stammt also selbst aus einem anderen Land oder hat Vorfahren, auf die das zutrifft. Es war mit Händen zu greifen: Diese Menschen feiern mit, sie gehören dazu.
2006, als sich während der Weltmeisterschaft in Deutschland das viel beschworene "Sommermärchen" zutrug, war die deutsche Gesellschaft ebenfalls schon migrantisch geprägt. Doch in der Mannschaft fand das noch kaum Widerhall. Mit David Odonkor und Gerald Asamoah gab es nur zwei Schwarze Spieler. Mittlerweile sind es deutlich mehr. Und mit İlkay Gündoğan führt ein Kapitän die Mannschaft auf den Platz, dessen Großvater als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war.
Es gibt Parallelen zwischen 2006 und 2024: Auch damals war das Sommermärchen herbeigesehnt und -geschrieben worden. 2006 war da dieser Wunsch, der Welt zu zeigen, dass Deutschland sich gewandelt hatte. Bis hin zur banalen Erkenntnis: Ja, sogar "wir" in Deutschland können weltoffen und (gast-)freundlich sein. Das verrät viel über unsere Knurrigkeit und Verbissenheit, die wir sonst wohl so an den Tag legen. Und gerade deshalb war es: irgendwie auch lustig, weil selbstironisch.
Turnierdirektor Philipp Lahm, 2006 noch Spieler und Schütze des ersten Tores, beschwört nun den Geist des Sommermärchens – und beschwert die Europameisterschaft im gleichen Atemzug mit einer ungeheuren Last. "Wir müssen unsere Werte und die Demokratie verteidigen", sagt er und appelliert. "Man kann den Fußball im positiven Sinne für unsere Werte benutzen."
Das zeigt schon, wie viel auf der Welt passiert ist seit 2006: Es gab Banken- und Finanzkrisen, große Fluchtbewegungen, Konflikte und Kriege, auch in Europa. Der Mensch hat das Klima gefährlich erwärmt, extreme Unwetter nehmen zu. Die Corona-Pandemie hat allen die eigene Verletzbarkeit vor Augen geführt und die Solidarität an ihre Grenzen gebracht. Deutschland ist oft ein kaltes Land, in dem Vermögen sehr ungerecht verteilt sind. Besonders Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben es vom Start weg schwer, kaum ein Bildungssystem sortiert Menschen so stark nach ihrer Herkunft wie das in Deutschland.
Und ja, die Demokratie ist in Gefahr. Der französische Superstar Kylian Mbappé warnt angesichts der bevorstehenden Wahlen in seinem Land davor, dass die Extremen sich an der Schwelle zur Macht befänden. "Ich rufe alle Landsleute und gerade auch die jungen Menschen dazu auf, wählen zu gehen. Wir müssen uns doch mit unseren Werten identifizieren, mit der sozialen und kulturellen Vielfalt, mit Toleranz und Respekt", sagte er vor dem ersten Spiel der Franzosen.
Mbappé benennt da beileibe kein französisches Problem: Kurz vor Turnierbeginn förderte eine repräsentative Umfrage (erhoben im April 2024) zutage, dass 21 Prozent der Deutschen es besser fänden, wenn wieder mehr Spieler mit weißer Hautfarbe in der deutschen Nationalmannschaft spielen würden. Die Zahl ähnelt den Wahl- und Umfragewerten der AfD, deren Vertreter auf Geheimtagungen darüber beraten, wie sie Menschen "remigrieren", sprich: deportieren.
Man muss sich das mal vorstellen: "Ich fände es besser, wenn wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen." Früher hätte man, wenn jemand von Infratest dimap anruft, zumindest gewusst: So was gehört sich nicht! Aber heute bekennt sich ein Fünftel offen zu rassistischen Einstellungen. Die gesellschaftliche Spaltung wird so auch im Fußball offenbar. Viele – und zwar die klare Mehrheit, so selbstbewusst darf und muss man sein – erfreuen sich an der Vielfalt, die auch die Nationalmannschaft abbildet, während eine oft sehr laute Minderheit die Welt so geordnet haben möchte, wie sie wohl nie war: klar nach Nationen und Herkunft geordnet.
Verständlich, wenn man sich nun wünscht, ein einziges Fußballturnier könnte alle wieder versöhnen. So unvorhersehbar dieser schöne Sport ist: Das kann der Fußball nicht leisten. Und wenn man Märchen danach beurteilt, dass sie ein gutes Ende haben, ist jetzt schon klar: Ein Sommermärchen, das bis Mitte Juli Gräben überwinden hilft, wirds nicht werden.
Vielleicht, und auch das hat Philipp Lahm gesagt, ist es deshalb ganz gesund, wenn man sich klarmacht: "Wir haben viele Herausforderungen, wir haben Kriege in Europa und weltweit. Aber auch dann darf man zusammenkommen und gemeinsam feiern." Es ist nur Fußball! Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Eine gute Zeit zu haben – das ist schon was wert inmitten der vielen Krisen, die man nicht lösen kann, wenn man nicht auch mal tief Luft holt.
Eine gute Zeit – vielleicht wäre das schon mehr, als wir vor Wochen noch zu träumen gewagt haben. Am besten, Sie klingeln mal nebenan und fragen, ob der Nachbar mitschauen möchte. Wäre doch ein Anfang.
Woher das kommt?
Die Antwort ist so einfach wie unser "Zusammenleben" in wettbewerbsbedingter Symptomatik menschenUNwürdig ist:
Mensch ist auf egozentrierte Bewusstseinsbetäubung konditioniert/konfusioniert.
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