Einfach mal nichts tun
Schauen Sie dem Gras beim Wachsen zu!
Warum wir das Pausemachen verlernt haben, selbst das Theater drei Stunden am Stück durchspielt und Frauen mehr Pausen brauchen als Männer
Menschen brauchen Pausen
Nadine Magner
Tim Wegner
Janos Buck
13.06.2024
8Min

Wer am Kölner Hauptbahnhof ankommt, nimmt für die Weiterfahrt den Bus. Der steht immer schon da, aber manchmal ist er ­verschlossen, und statt "Frankenstraße" oder "Zollstock Südfriedhof" steht auf dem Zielschild ­"Pause". Daneben ­ist eine leuchtende, ­dampfende ­Kaffeetasse zu sehen.

Es gibt jetzt zwei Fehler, die man ­machen kann. ­Erstens: an die geschlossene Tür klopfen und die Busfahrerin, die gerade in ihr Käse­brot beißt, fragen, wann es denn endlich losgeht in Richtung Franken­straße. Dann wartet man gut und gerne noch mal fünf ­Minuten länger und versteht: Diese ­Pause hier ist heilig.

Der zweite Fehler wäre, sich zu ärgern, dass man jetzt erst mal warten muss. Denn das lehrt jede Achtsamkeitsapp: Wartezeiten sind eine gute Gelegenheit, selbst mal ein paar Minuten durchzuatmen. Ganz ehrlich – dazu muss man vermutlich das große Achtsamkeitsdiplom haben. Erzwungene Warte­rei macht nicht so richtig glücklich. Aber man könnte sich zumindest in Akzeptanz üben. Wat wellste maache, Artikel 7 des ­Kölschen Grundgesetzes. Der 132er fährt jetzt halt nicht, is so.

Richtig schlau wäre, der Bus­fahrerin nicht nur die Pause von Herzen zu gönnen – schließlich hat sie sich während Corona anhusten, während Karneval voll­spucken und ­spätnachts dumm anpöbeln lassen. Sie hat ihre Pausen verdient! Schlau wäre, wenn wir Kreativarbeiter, Büro­menschen und Rund-um-die-Uhr-Erreichbaren uns an den ­Busfahrern ein Beispiel nähmen. Nämlich: richtig feste Pausen in unseren Tag einbauen.

Denn die Pause, sie ist bedroht. Nicht so sehr von bösen Arbeitgebern, die einem das Verschnaufen nicht gönnen wollen. Sondern eher von uns selber, die wir lieber ­durcharbeiten und abends früher Schluss machen. Die wir denken: Unser Job ist sooo sinnvoll, da braucht es gar keine Pause. Und die wir unsere digi­talen Geräte einfach nicht abstellen mögen, auch nicht in der kurzen Kaffeepause. Da checken wir Insta und Face­book, anstatt die Augen zu schließen oder verträumt aus dem Fenster zu schauen.

Dabei bräuchte es genau das: regel­mäßig ­Pausen machen, in ­denen wir nichts tun. Nicht lesen, nicht die Spül­maschine aus­räumen und auch keine Spanisch-Vokabeln auf der ­Duolingo-App memorieren. Eine sinnvolle Pause ist: "Auf einer Bank sitzen und dem Gras beim Wachsen zuschauen." Das empfiehlt der Neurologe und ­Psychotherapeut Professor Hartmut Göbel, er leitet in Kiel die bekannteste Schmerzklinik in Deutschland, er muss es wissen. "Echte Pausen sind das Allerwichtigste in der ­modernen Welt. Aber wir haben die Pause verlernt."

Lesen Sie hier: Wie ein Netzwerk es Eltern von Pflegebedürftigen Kindern ermöglicht, mal Pause zu machen

Besonders Frauen sollten darauf achten, so Göbel: "Ihr Hirn ist genetisch so ausgestattet, dass es schneller arbeitet, präziser unterscheiden kann, vorwärts und rückwärts denkt." Was passiert, wenn ich in die Stadt fahre, und da gibt es keinen Parkplatz? Was passiert, wenn sich die Erde weiter erhitzt und ­meine Kinder es kaum mehr aushalten? So denkt das Frauenhirn noch mehr als das Männerhirn: emotionaler, differenzierter. Und das verbraucht ­enorm viel Energie im Hirn. "Entweder wir schaffen es, das Betriebssystem regel­mäßig runterzufahren. Oder der ­Körper zieht die Notbremse."

Notbremse heißt: Zwangspause. ­Kinder, die nicht regelmäßig Pause machen, schalten dann in der ­Schule ab. Manche fühlen sich müde und abgeschlagen. Migränepatienten – das sind dreimal mehr Frauen als Männer – bekommen dann einen Migräne­anfall. Der kann bis zu drei Tage dauern. Auch eine ­Pause, aber keine schöne. Übelkeit, ­Verzweiflung, ­abgedunkelte Räume.

Also lieber – rechtzeitig eine Pause ­einlegen, die auch Spaß macht. Aber wie soll das gehen? Göbel kommt aus einem katholischen Dorf bei Würzburg. "In meiner Kindheit haben die Erwachsenen ­sonntags drei Stunden aus dem Fenster geschaut, mit einem Kissen unterm Ellbogen. Das war genau richtig!" Oder den Rosen­kranz gebetet. ­Alles sinnvolle Unter­bre­chungen. Heute empfiehlt der ­Professor seinen ­Patienten, so sie nicht religiös sind, zum Beispiel Entspannungs­übungen wie die progressive Muskelrelaxation. Viele Therapie­verfa­hren wirken über Entspannung und Abschal­ten: "Bis ­heute ist nicht geklärt, warum Akupunktur manchen Schmerzpatienten hilft. Ich vermute: auch deshalb, weil sie in der halben Stunde, in der die Nadeln im Arm ­stecken, nicht weglaufen können. Und keine Mails checken."

Besonders schwer tun sich ­junge ­Leute mit den Pausen, sagt der Chefarzt. "Die leiden an kompletter Reiz­überflutung." Und fragen, wenn der Doktor eine Pause verordnet, als ­Erstes: "Aber das Handy darf ich schon mitnehmen, oder?" Nein, sagt er dann. Guck den Wolken zu. Oder den Vögeln, wie sie ihr Nest bauen.

Es ist schon absurd. Als die Digi­talisierung Fahrt aufnahm, war die Angst groß: Der ­Arbeitgeber wird uns jetzt genau tracken. ­Haben wir genug geschafft, Content produziert, Anschläge, Wörter, Posts? Oder doch zu viel Zeit in der Kaffeepause verdaddelt? Und es gibt natürlich bis heute Betriebe, die genau das tun: ihre Mitarbeiter auf Höchstleistung und Effizienz überwachen. Bei Amazon gab es ­immer wieder Ärger um die Pausen: Zählt der Fußweg zu und von den Pausen- und Kantinenräumen ab Signalton mehr als fünf Minuten? Und was ist, wenn man öfter zur Toilette muss als vorgesehen?

Das Thema Toilette ­beschäftigt immer wieder sogar Arbeits­gerichte. Denn der Gang zur Toilette ist ­keine Pause, sondern eine "vom Arbeitgeber zu duldende kurzzeitige Arbeits­unterbrechung". Ein Arbeitnehmer, der innerhalb von zwei ­Wochen insgesamt 384 Minuten auf der Toilette verbrachte, bekam diese Zeit vom Lohn abgezogen. Zu Unrecht, urteilte das Arbeitsgericht Köln. Die Toilettenpause ist ein Menschenrecht. Immerhin.

Aber die meisten von uns arbeiten ja nicht bei DHL und Amazon. Wir sind ­Büromenschen, dürfen ungestraft aufs Klo und sind in der Lage, unsere Pausen zu ­managen. Theo­retisch. Und rechtlich. Aber faktisch geraten immer mehr in ein Hamsterrad, das sich pausenlos dreht. In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Fehltage wegen psychischer Probleme um mehr als 50 Prozent zugenommen, sagt die DAK. Betroffen sind vor allem jüngere Beschäftigte.

Und deshalb trackt einen die Krankenkasse neuerdings genau andersrum: Hast du genug Pausen gemacht? Hast du deine Rücken­übung am Arbeitsplatz gemacht? Was ist mit deiner Mittagspause? "Und, wie geht’s mir?" steht über einem Porträt der Instagram-­Creatorin Emily Knafl im aktuellen Magazin der Techniker-­Krankenkasse. Knafl nutzt den "TK-Coach", eine App, die ihre psychische Gesundheit überwacht. Sie regel­mäßig daran erinnert, nicht pausenlos zu influencen und zu posten.

"Im Großraum­büro ­kommen die besten Ideen: an der Kaffee­maschine"

Das eine wie das andere ist fragwürdig. Wir wollen nicht digital überwacht werden, ob wir zu viel Pause machen. Wir wollen aber auch nicht unbedingt unserer Kranken­kasse verraten, ob wir am Bildschirm nach 90 ­Minuten das "Workout für den ­fitten Kopf" abgeturnt haben. Zwar verspricht die App höchste Daten­sicherheit. Aber wenn dann doch in zehn Jahren die Krankenkasse sagt: Wie, neue Hüfte? Hättest du am 23. März mal deine Rückengymnastik aus der App gemacht! Nee, nee, das mit den Pausen – das müssen wir schon selbst organisieren.

Einiges können moderne Firmen tun: auf der Dachterrasse Lounge­sessel aufstellen, damit man von dort in die Weite gucken kann. Kaffee­küchen einrichten, in die mehr als zwei Menschen passen. Noch besser: eine Insel mit guter Espresso­maschine, wo man auch länger als die 30 Sekunden stehen mag, bis die Brüh­einheit den Latte – zrrrr, blop – durchs Sieb gejagt hat. Start-ups machen das bisweilen ganz gut – im Berliner AI Campus erzählt man sich: Trotz Zoom-Calls mit Singapur und Berkeley entstehen die bes­ten Ideen an der Kaffee­maschine im Großraumbüro in der Max-­Ulrich-Straße. Oder am "Bowl Creator", einer futuristischen Maschine, wo sich die hungrige Programmiererin mit Chiasamen und Edamame versorgen kann. Hauptsache Pause.

Ganz einfach auch die Idee, die man beim mittelständischen Farbstiftebetrieb Staedtler in Nürnberg vor einigen Jahren hatte: Alle Mit­arbeitenden bekamen morgens an der Pforte Buntstifte und Mandalas ausgehändigt mit der expliziten Aufforderung: "Mach öfter mal Pause! Mal ein Mandala!" In den Fluren standen Stelen, an denen man malen und weitermalen und lettern konnte. "Kam super an", sagt Pressesprecher Dominik ­Kestler, "und viele malen jetzt weiter, auch wenn die Kampagne abgeschlossen ist." Klar, Buntstifte malen nicht nur die Pause farbig an, sondern machen auch die Mitarbeitenden zu ­Botschaftern ihres Produktes. Seltsam, dass da nicht schon mehr Firmen drauf gekommen sind. Hallo, Chefinnen! Farbstifte!

Was dem einen das Mandala, ist der anderen das Gebet. Nicht nur im Kindheitsdorf des Schmerz-­Professors, sondern auch mitten in Berlin wird die heilsame Unter­brechung des Gebets durchaus noch praktiziert. Evamaria Bohle ist Journalistin in der Hauptstadt und Teil ­einer achtköpfigen Gemeinschaft, die in einem evangelischen Stadtkloster zusammenlebt. In ihrer Morgen­andacht im Deutschlandfunk beschreibt sie, wie die festen Pausen ihrer Seele guttun: "Noch nie ist eines ­dieser Tageszeitengebete ausgefallen. Wenn die ­Glocken morgens und mittags läuten, lassen wir uns bei dem, was wir tun, unterbrechen. Ein Lied. Ein Gebet. Ein Abschnitt aus der Bibel. Schweigen. Vaterunser und Segen. Gerade diese eher spröde Regelmäßigkeit erdet und führt mich verlässlich in die Weite. Wie ein Strandspaziergang." Wie schön!

Ganz verloren ist sie also noch nicht, die Pause. Und kaum kämpft man für sie, findet man viele Mit­streiter. Neulich im Schauspiel Köln, "Der Prozess" von ­Kafka, harter Stoff an einem sonnigen Samstag­abend, zwei Stunden ohne Pause. Uff, sagt die Theatergängerin, hätte man nicht nach einer Stunde schon mal im wunderschönen Theatergarten ­einen Aperol Spritz zwischen Sonnen­blumen und Minzetöpfen trinken können? Klar, Theater ist ja ­eigentlich an sich schon eine ­Pause. Aber die ist dann ganz schön ­effizient gehalten. Dabei wäre es so schön: die neusten ­Modetrends des ­Kulturpublikums gucken, ­frische Luft, Toilette. Es hätte sich die Aus­weg­losigkeit des Herrn K. auch gleich ein ­bisschen heiterer angefühlt.

Wie viel lustiger war es neulich in Wien, wo man nicht nur wegen der Inszenierung des ­etwas angegrauten Stücks "Der ideale Mann" von Oscar ­Wilde ins Theater in der Josefstadt ­pilgerte. Sondern in der Pause am Stehtisch die vorbestellte Lachs­schnitte futterte, am Grünen ­Veltliner nippte und guckte, wer noch so da ist. Mit dem müsste man mal wieder . . . Und dann könnte vielleicht . . . Darum geht’s ja auch. Denn nach der Vor­stellung hetzen ja doch fast alle zu ­ihrem Parkhaus oder ihrer Bahn.

Ob gerade wir Deutschen lieber durch­ziehen, hätte man gerne vom Deutschen ­Bühnenverein erfahren, aber der reagiert nicht auf Anfragen. Also nachgucken beim Portal "Nachtkritik". Kritiker Michael Wolf klagt: "Selbst bei Inszenierungen von einer Dauer von drei Stunden kann man nicht ­sicher von einer Unterbrechung ausgehen." Blöd, sagt Wolf, denn ­Theater seien doch Orte, wo die Stadtgesellschaft zusammenkommt.

Da hat wohl so mancher Intendant die ­Sorge, die Zuschauer könnten die Pause ­nutzen, nach Hause zu gehen. Oder in ­eine Bar. Aber auch das liegt im Wesen einer ­Pause: ein Stück Freiheit. Bleiben oder gehen. Warum denn nicht? Alles besser als: pausenlos funktionieren.