Was ist eigentlich ein Whistleblower?
Benjamin Knödler: Ein Mensch, der im Kontext seiner Arbeit auf Missstände oder Regelverstöße aufmerksam macht – er oder sie muss aber nicht zwingend an die Öffentlichkeit gehen, wie die Whistleblower, die wir in unserem Buch porträtiert haben.
Christine Knödler
Benjamin Knödler
Sie versammeln in Ihrem Buch 20 Porträts. Wie haben Sie die Menschen ausgewählt?
Christine Knödler: Uns war wichtig zu zeigen, dass es Whistleblower und Whistleblowerinnen auf der ganzen Welt gibt. Es sind einige Deutsche dabei, weil wir besonders da die Möglichkeit hatten, persönlich mit ihnen zu sprechen. Es ging uns auch um die Bandbreite der Themen: nicht nur um Überwachung von Menschen, sondern auch um Skandale in Wirtschaft und Politik, im Gesundheitssektor, in Umwelt und Sport. Berühmtheiten wie Edward Snowden, der enthüllt hat, wie US-Geheimdienste die Massen überwachen, sind natürlich auch dabei. Aber auch weniger Bekannte waren uns wichtig. Und historische Fälle, wie die Watergate-Affäre um den kriminellen Präsidenten Nixon. Dieser Fall hat schon früh gezeigt: Wenn Menschen das Schweigen brechen, kann sich etwas verändern.
Warum hat Julian Assange kein eigenes Kapitel bekommen?
Benjamin Knödler: Er ist im eigentlichen Sinne kein Whistleblower, sondern hat ab 2006 mit Wikileaks eine Infrastruktur für sie zur Verfügung gestellt. Er hat nicht innerhalb eines Systems agiert, sondern von außen. Wie die Enthüllungsjournalisten, die mit Whistleblowern zusammenarbeiten.
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Wikileaks ist . . .
Benjamin Knödler: . . . eine digitale Plattform, auf der brisante Originaldokumente anonym hochgeladen werden können. Darüber haben wir im Buch einen Hintergrundbericht geschrieben und dabei auch Assanges Geschichte erzählt.
Ihr Buch richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene. Welche Auswirkungen hat das auf den Stil?
Benjamin Knödler: Wir mussten komplexe Sachverhalte wie Waffenexporte oder Cum-ex-Geschäfte auf das Wesentliche reduzieren, ohne zu sehr zu vereinfachen. Das zwingt einen dazu, den Stoff wirklich zu durchdringen. Wenn man die Dinge selbst nicht verstanden hat, kann man sie auch nicht erklären. Ich hoffe, das ist uns gelungen. Bei aller erklärenden Distanz sollte aber auch die persönliche Betroffenheit der Porträtierten deutlich werden. Jugendliche wollen wissen, warum jemand persönlich berührt ist, sie interessieren sich für die großen Themen, wie wir immer wieder bei Lesungen gemerkt haben.
Wer hat Sie besonders beeindruckt?
Christine Knödler: Mich hat vor allem Reality Winner sehr beschäftigt, weil mich ihre Geschichte angefasst und aufgestört hat. Sie hat russische Einflussnahme im US-Wahlkampf enthüllt und musste dafür vier Jahre ins Gefängnis. Mir ist deutlich geworden, wie mächtig ein Staat gegenüber einem Individuum agieren kann. Anders war es bei Andrea Würtz, mit der ich persönlich über den Pflegeskandal in einem Seniorenheim sprechen konnte. Sie hat den Kampf für bessere Bedingungen in der Pflege zu ihrer Lebensaufgabe gemacht.
Benjamin Knödler: Edward Snowden ist schon beeindruckend, weil er so planvoll vorgegangen ist und sich genau überlegt hat, wem er wann welche Informationen gibt. Dafür hat er einen hohen Preis gezahlt. Er kann nicht mehr in seiner Heimat, den USA, leben. Persönlich sprechen konnte ich mit dem Ermittler Cihan Kuzkaya, der dem Waffenhandel von Europa nach Russland nachgegangen ist. Er ist ein sehr sympathischer und bescheidener Mensch, der davon überzeugt ist, das Richtige getan zu haben.
Was zeichnet Whistleblower aus?
Benjamin Knödler: Eine gewisse Kompromisslosigkeit, Hartnäckigkeit und Gründlichkeit. Viele sind extrem strukturiert. Frances Haugen hat ein unglaublich kompliziertes Ordnersystem mit internen Facebook-Dokumenten angelegt, um hieb- und stichfest über die Gefahren von Social-Media-Plattformen aufzuklären.
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Christine Knödler: Natürlich zeichnet Whistleblower auch Mut aus, dieses: Wenn es niemand macht, muss ich es eben tun, egal, welche Konsequenzen das hat. Der Wirtschaftsanwalt Eckart Seith, der Cum-ex-Geschäfte aufgedeckt hat, hat mir im persönlichen Gespräch gesagt, er habe einen inneren Kompass. Andere sprechen von ihrem Gewissen. Sie haben Werte. Und ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Allgemeinheit.
Whistleblower nehmen oft schwerwiegende Konsequenzen in Kauf . . .
Christine Knödler: Fast alle Porträtierten haben ihren Job verloren und konnten in ihrem Bereich nicht mehr Fuß fassen. Whistleblowing ist nicht zuletzt ein hohes finanzielles Risiko. Ganz abgesehen vom sozialen Preis. Wenn es ganz schlimm kommt, vereinsamen sie, weil andere vor ihrer Renitenz zurückschrecken oder Angst haben, mit hineingezogen zu werden. Oder sie müssen das Land verlassen wie Snowden. Manche landen vor Gericht oder im Gefängnis.
Benjamin Knödler: Frank Serpico, der sich nicht mit Korruption in der New Yorker Polizei abfinden wollte, musste sogar um sein Leben fürchten. Aber das ist schon extrem.
Was hat Sie bei der Recherche überrascht?
Christine Knödler: Die Stärke dieser Menschen, auch dann noch, wenn ihnen dämmerte, was auf sie zurollt. Das brauchen wir immer mehr: Menschen, die sagen, wir wissen, was richtig und was falsch ist – und danach handeln.
Benjamin Knödler: Ich fand spannend, dass Whistleblower-Geschichten nie zu Ende sind. Es ist ja nicht so, dass sie auf etwas hinweisen und danach ist dieses Problem gelöst. Whistleblower sind ein Glied in einer Kette von Ereignissen, nach denen noch viel folgen muss. Staatliche Überwachung und Social-Media-Gefahren zum Beispiel gibt es ja noch immer.
Was ist der Unterschied zwischen einem Whistleblower und einem Verräter?
Christine Knödler: Diese Frage haben wir auch in einem unserer Hintergrund-Spots aufgegriffen. Der Begriff Verräter oder Verräterin ist absolut negativ. Viele denken bei Whistleblowern auch an "Petze". Wer dieses Etikett verpasst bekommt, steht eindeutig auf der falschen Seite. Es ist aber komplizierter. Ich glaube, es liegt an der Hierarchisierung von Werten. Ein Staatsgeheimnis, ein Geschäfts- oder ein Bankgeheimnis ist erst mal bindend. Doch dann kommt jemand und sagt: Ich muss es aber lüften, sonst kann ich nicht aufdecken, was hier falsch läuft, und das kann bei anderen dann zu einem Begriff wie Verrat führen. Ich würde nie auf die Idee kommen, dass jemand, der eklatante Missstände aufdeckt, ein Verräter ist. Vielleicht ist es auch eine Generationenfrage. Jüngere Arbeitnehmer hinterfragen Hierarchien inzwischen. Nur weil jemand Chef ist, muss man noch lange nicht alles tun, was er sagt.
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Benjamin Knödler: Ich glaube, es ist eine Frage der Perspektive. Wo steht man, wenn man einen Whistleblower "Verräter" nennt? Wenn man noch Teil des Systems ist, ist man vielleicht wütend oder angefasst. Jemand, der nicht im System ist, zum Beispiel einfach ein Steuerzahler oder eine Bürgerin, die nicht überwacht werden will, ist eher dankbar für Aufklärung.
Seit Juli 2023 müssen Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeitenden per Gesetz Anonymität garantierende Whistleblower-Stellen einrichten, ebenso auch der Bund. Was halten Sie davon?
Benjamin Knödler: Das war überfällig, aber es reicht noch nicht, vor allem, was den Staat betrifft. Trotzdem ist es ein Schritt in die richtige Richtung, weil es den Vorgang normalisiert. Wir haben während unserer Recherche oft gehört, man müsse mehr über Whistleblowing reden. Sonst sind das so überlebensgroße Figuren und es gibt kein Bewusstsein dafür, dass Whistleblowing auch im Kleinen anfangen kann. Deshalb ist es gut, dass es jetzt solche Gesetze gibt.
Hat Sie die Arbeit an dem Buch verändert?
Benjamin Knödler: Mich hat beschäftigt, dass viele Whistleblower jünger waren, als ich es jetzt bin – ich bin 32. Wahnsinn, in diesem Alter solche gravierenden Entscheidungen zu treffen. Mir ist klar geworden, dass das Teil des Lebens sein kann. Es gab aber auch Bestärkendes: Einsamkeit ist zwar ein großes Thema für Whistleblower, doch es gibt durchaus gegenseitige Hilfe und Strukturen, die diese Menschen unterstützen.
Christine Knödler: Das kann ich nur bestätigen. Ich würde schon sagen, dass auch ich einen moralischen Kompass habe und in meinem persönlichen Leben Entscheidungen getroffen habe, die nicht immer opportun waren oder zumindest risikobehaftet. Aber das hatte nur mit meinem Leben zu tun. Sich jetzt intensiv damit zu beschäftigen, dass es Leute gibt, die Risiken für die Gesellschaft eingehen, hat mich schon verändert. Es ermutigt, wach zu sein und nicht wegzuschauen. Es macht auch demütig. Nicht im Sinne von sich klein fühlen, eher im Sinne von Respekt. Denn ich habe schon immer wieder gedacht: So wie die wäre ich nie, das könnte ich nie. Aber man kann ja klein anfangen.
Warum braucht unsere Gesellschaft Whistleblower?
Benjamin Knödler: Weil sie die Gesellschaft voranbringen, gerade weil sie unbequem sind, hinterfragen, auf die Probe stellen. Meistens verändern sich Gesellschaften ja nicht durch Revolutionen, sondern Stück für Stück. Man gewöhnt sich beispielsweise an Hass im Netz, bis jemand sagt: Wisst ihr eigentlich, dass es da einen Konzern gibt, der damit richtig viel Geld verdient? Man muss ja gar nicht alles richtig finden, was Whistleblower tun. Aber sie fordern uns heraus, und zwar mit demokratischen Mitteln.
Christine Knödler: Wir brauchen Whistleblower, weil sie Vorbilder sind, indem sie Sollbruchstellen aufzeigen. Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere veröffentlichte und damit dazu beigetragen hat, dass der Vietnamkrieg beendet wurde, hat gesagt: Mut ist ansteckend. Whistleblower und Whistleblowerinnen nehmen uns in die Pflicht, indem sie vormachen: Ich finde mich nicht ab, deshalb ändere ich etwas. Das ist Selbstermächtigung im individuellen wie politischen Sinn. Deshalb ist es auch ein Thema für ein Jugendbuch.
Christine Knödler, Benjamin Knödler: "Whistleblower Rebels: 20 Menschen, die für die Wahrheit kämpfen", Hanser, 20 Euro.