Antje Tiessen, 51:
Ich betreue gerne Fehlgeburten. Wobei ich ungern "Fehlgeburt" sage, weil das so klingt, als gäbe es einen Fehler, als hätte jemand was falsch gemacht. Ich spreche lieber von einem "frühen Schwangerschaftsende". Etwa jede sechste Schwangerschaft endet vor der 24. Woche, die meisten in den ersten drei Monaten.
Oft gibt es einen Ultraschallbefund, "missed abortion", bevor sich das Ende der Schwangerschaft durch eine Blutung zeigt. Die Fehlgeburt hat noch nicht eingesetzt. Bei diesem Befund liegt man meist halbangezogen auf der Liege bei der Frauenärztin, die Zeit drängt, das Wartezimmer ist voll, da lässt sich die Wucht einer solchen Nachricht kaum auffangen.
Dann wird in der Praxis üblicherweise zu einer Ausschabung geraten, ambulant, unter Vollnarkose. Das ist für manche richtig, andere brauchen mehr Zeit und warten den physiologischen Prozess eines Spontanaborts ab. Ich biete den Betroffenen an, sie dabei zu begleiten. Wenn das Schwangerschaftshormon HCG genug abgesunken ist, beginnt die eigentliche Fehlgeburt: Der Körper stößt das Plazentagewebe und den Embryo ab, zusammen mit relativ viel Blut und auch unter Schmerzen. Das kann schnell so weit sein oder wenige Wochen dauern, der Prozess lässt sich medikamentös auch beschleunigen.
Ausschabung oder spontane Fehlgeburt
Im Netz kann man auch mal den Eindruck bekommen, dass eine spontane Fehlgeburt irgendwie "toller" sei als eine Ausschabung. Das ist Quatsch. Aber mir ist wichtig, dass die Betroffenen über alle Möglichkeiten informiert werden und eine selbstbestimmte Entscheidung treffen, die weder vom Terminplan noch vom Partner und auch nicht von der Gynäkologin diktiert wird.
Ich erkläre in einem ausführlichen Beratungsgespräch den Ablauf und die Risiken, aber auch, wie man einen Messbecher bastelt, den man in die Toilette stellen kann, um Blut und Gewebe aufzufangen. Oft beginnen die Paare dann schon zu planen: "Ah okay, dann muss das große Kind zur Oma." Sie wirken immer noch traurig, aber tatkräftig und klarer.
YouTube:
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Ich bin rund um die Uhr erreichbar und begleite die Fehlgeburt meist am Telefon, auch mal alle zwanzig Minuten nachts um drei. Am Tag danach schaue ich mir mit den Menschen das Gewebe an. Oft entstehen schöne Ideen, was damit passieren soll. Ein Paar hat das Gewebe unter der Parkbank am Kanal begraben, wo sie ihr erstes Date hatten.
Die Menschen sind erleichtert und stolz, auch voller Ehrfurcht, ähnlich wie bei Geburten. Eine Fehlgeburt wird "kleine Geburt" genannt, das ist sie auch, bis in die Details hinein. Und sie ist eine gute Vorbereitung auf eine richtige Geburt.
Obwohl ein frühes Ende der Schwangerschaft häufig ist, wird wenig darüber gesprochen. Wenn eine Fehlgeburt selbstbestimmt abläuft, besteht mehr Möglichkeit, sie gut zu verarbeiten. Es ist völlig normal, eine Weile sehr traurig zu sein, Gedankenschleifen zu haben, viel zu weinen, aber oft ist es gut, mein Angebot zu nutzen.
Ich glaube, dass das bewusste Erleben hilfreich für diese Trauerarbeit ist. Wenn die Menschen sich das Gewebe ansehen können, manchmal auch den Embryo, gleichen sie Fantasievorstellungen mit der Realität ab. Und sie merken, dass ihr Körper das schafft. Für viele hat eine Fehlgeburt etwas mit Versagen zu tun – der Prozess selber ist aber dann oft eine Erfahrung von Kraft: "Das hat mein Körper jetzt ganz alleine gekonnt." Ich merke immer wieder, dass es für die Betroffenen hilfreich ist, von mir als einer Hebamme begleitet zu werden, die damit Erfahrung hat. Hebamme ist einer dieser Berufe, bei denen es cool ist, graue Haare zu haben.
Begleitung bei Abtreibungen
Dass Fehlgeburten von Hebammen begleitet werden, wird langsam selbstverständlicher. Anders ist es mit Abtreibungen. Auch für sie biete ich Begleitung an – medizinisch läuft eine Abtreibung fast genauso ab wie eine medikamentös eingeleitete Fehlgeburt. Das ist eine enorm verletzliche Situation für die Betroffenen, und ich wünsche mir dafür standardmäßig ein gutes professionelles Angebot, einen möglichst geringen medizinischen Eingriff, keine moralische Abwertung. Bei der Begleitung von Abtreibungen stehe ich noch ganz am Anfang, ich muss erst noch herausfinden, wie der Bedarf ist.
Ruhn in Frieden alle Seelen
Es ist wunderbar und ein wichtiger Schritt, dass dies die Frauen flächendeckend betreffende Thema in die Aussprache kommt und damit auch die vielen Zweifel und nicht selten Schuldgefühle, die sich daran knüpfen - nicht zuletzt durch das schamhafte Beschweigen oder die unausgesprochene Projektion von Minderwertigkeit auf die betreffende Frau. Von Franz Schubert gibt es das berührende Lied "Litanei - Ruhn im Frieden alle Seelen" mit der Strophe "Und die nie der Sonne lachten ...", in der er die ungeborenen Verschiedenen anspricht. Beim Wiederhören dieses Liedes habe ich den Gedanken bekommen, dass diese Kleinen nie aus der Bergung in Gottes Hand entlassen wurden, und es der Mutter zugefallen ist, ihnen diese Bergung im wärmenden Schoß zuteil werden zu lassen - ohne dass sie je einmal mit dem menschlichen Schicksal von Leid und Schuld konfrontiert werden mussten. Sie müssen auch nicht erlöst werden, da sie immer schon erlöst waren in ihrem wohl vollendeten Leben. So scheint es mir zu sein und ich bin nicht sicher, ob ich das klar rübergebracht habe, aber ich wollte es wenigstens in Umrissen zu diesem mich bewegenden Thema beigesteuert haben.
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