Literatur und Religion
"Im Alten Testament gibt es ganz viel Magie"
Ein Café, das wie magisch die Leute anzog, inspirierte Pfarrer Nils Petersen zu einem Fantasyroman. Warum der evangelischen Kirche etwas mehr Magie guttun würde, sagt er im Interview.
Jacob Cornelisz van Oostanen, Saul und die Hexe von Endor, 1526
Jacob Cornelisz van Oostanen, Saul und die Hexe von Endor, 1526
Tim Wegener
02.06.2023
4Min

Sie haben einen Fantasyroman geschrieben, der in einem Hamburger Café spielt. Wie kamen Sie denn darauf?

Nils Petersen: Ich habe als Pastor mehrere Jahre lang die Rathauspassage in Hamburg geleitet. Das war ein diakonischer Ort für Langzeitarbeitslose. Dort war auch ein leer stehender Kiosk, obwohl jeden Tag Hunderte Menschen vorbeigelaufen sind. Dann habe ich zwei Kaffeeröster kennengelernt, die ein Start-up gegründet haben, und gefragt, ob sie dort ein Café eröffnen wollen. Ab dem ersten Tag stand regelmäßig eine Traube Menschen vor dem Café, obwohl es nicht günstig war. Das hatte etwas Magisches! So kam ich auf die Idee, einen Roman zu schreiben.

Darin geht es um mythologische Figuren, die sich aus der magischen Gesellschaft zurückgezogen haben. Und dann geschieht ein Mord. Warum haben ausgerechnet Sie als Pfarrer einen Fantasyroman geschrieben?

Weil mich diese Geschichte so angesprungen hat: Ich konnte mir nicht erklären, warum dieses Café, das nichts Besonderes hat, so ein Anziehungspunkt wurde. Das Buch ist nicht bierernst, sondern ironisch und lustig. Die meisten Pastoren, die schriftstellerisch unterwegs sind, schreiben ja Krimis. Da fragt man sich auch, warum?

Privat

Nils Petersen

Nils Petersen, Jahrgang 1970, ist Pfarrer und Schriftsteller. Er hat evangelische Theologie, Sonderpädagogik und Diakoniewissenschaft in Hamburg und Heidelberg studiert. Er war Dorfpastor in Schleswig-Holstein und Leiter der Hamburger Rathauspassage. Seit April 2020 ist er Gemeindepastor in der Luthergemeinde Hamburg-Bahrenfeld. Sein erster Roman, "Mechthild von Rickling", erschien 2001 in Heidelberg. 2023 veröffentlichte er den Fantasyroman "Veljkos Café" (Wortschatten-Verlag). Seit einigen Jahren ist er als Poetry- und Preacher-Slamer in ganz Deutschland unterwegs.

Und warum?

Da geht es um Mord und Totschlag – etwas, von dem wir uns fernhalten. Dabei sind wir ständig auf Friedhöfen, haben mit dem Tod zu tun. Wenn man Notfallseelsorge macht, erlebt man die schlimmsten Geschichten. Das kann man in abstrahierter Form als Roman verarbeiten.

Sie mischen Fantasy, biblische Elemente und ein realistisches Setting. Was hat Sie inspiriert?

Wenn wir in der Kirche von der Wirksamkeit des Wortes sprechen, sind wir auch auf so einer magischen Zwischenebene. Ich bin zum Beispiel auf den Aaronstab gestoßen – eines der magischen Artefakte im Roman: Im Alten Testament legen die zwölf Stämme Israels ihre Stäbe auf die Bundeslade und der Aaronstab schlägt aus, trägt Blüten und reife Mandeln. Das ist ja eine magische Geschichte.

Wie viel Fantasy steckt im Christentum?

Vor allem im Alten Testament gibt es ganz viel Magie. Im 1. Buch Samuel zum Beispiel beschwört die Hexe von Endor in der Nacht den Geist des Propheten Samuel herauf. Das ist eine gruselige Atmosphäre. Auch die Apokalypse ist so fantastisch, dass man sie sich ab einem bestimmten Punkt gar nicht mehr vorstellen kann. Dieses Fantastische regt uns an, weiterzudenken. Wenn Religion nichts anderes ist als etwas Alltägliches, das ich konsumieren kann wie Fernsehen, dann fehlt dem etwas Transzendentales. Wie viel Raum gebe ich der fantastischen Welt in meiner Vorstellung? Wie wichtig sind mir Wundergeschichten? Ist Jesus tatsächlich übers Wasser gegangen? Ich finde es faszinierend, dass es in der Bibel ganz viel Okkultes gibt, Wahrsagerei zum Beispiel. In der evangelischen Kirche wird das völlig ausgeblendet. Auch die Heiligen Drei Könige folgen irgendwelchen Sternen. Das führen wir in jedem Weihnachtsgottesdienst auf, aber Horoskope würden wir nie lesen. Diese Diskrepanz interessiert mich.

"In keiner Religion kann man so wenig 'priestern' wie in der evangelischen"

Würde der Kirche ein unverkrampfter Umgang mit fantastischen Themen guttun?

Das glaube ich schon. Wir haben einen großen Verlust in der Alltagsreligiosität. Mir ist das bewusst geworden, als ich in Japan war. Wir Protestanten sagen immer, wir haben das Priestertum aller Gläubigen. Aber es gibt kaum eine Religion, in der man so wenig "priestern" kann wie in der evangelischen. Als Katholik könnte ich mich mit Weihwasser bestreichen, hinknien und Kerzen für Heilige anzünden, um ihren Segen zu erbitten. Im Shintoismus gehen die Leute zum Schrein und können religiöse Handlungen vollführen. Das kann man bei uns nicht. Es heißt: Das braucht man auch nicht, es nützt ja nichts. Theologisch stimme ich zu. Ich kann mich nicht in den Himmel räuchern oder meditieren. Da bin ich trocken lutherisch. Allein die Gnade Gottes wirkt. Aber trotzdem kann ich Freude am heiligen Spiel haben, Räucherstäbchen anzünden oder in einen scheinbar absurden Ritus einfallen, der mir theologisch nichts bringt.

Ihnen fehlt das rituelle Spektakel?

Es ist gut, wenn es rein vernünftige Gottesdienste gibt, aber dann ist es auch wichtig, dass man Gottesdienste hat, die das ausweiten und anders darstellen. Liturgisch ist da viel mehr drin bei uns.

Könnte man so wieder mehr Menschen begeistern, Religion im Alltag zu praktizieren?

Man kann es ausprobieren. Das wird nicht der große Missionserfolg werden. Aber dass wir im religiösen Bereich gar nicht mehr ernst genommen werden, wenn es um kultische Fähigkeiten geht, finde ich bedauerlich.

Soll Ihr Roman dazu beitragen, das Fantastische in der Religion wiederzuentdecken?

Ja, tatsächlich. Viele Leute, die das Buch gelesen haben und lange nicht mehr in der Kirche waren, fanden es total interessant. Die haben einen Zugang bekommen, um Mythologisches und Okkultes zu lesen. Ich versuche, mit dem Buch Interesse zu wecken an einer transzendenten Welt, die wir uns wünschen. Aber am Ende ist es einfach ein Fantasyroman.

Wo gibt es Parallelen zwischen Ihrem Buch und Ihrer Arbeit in der Kirche?

Diese fünf Protagonisten sind Figuren, die nicht dazugehören. Sie haben sich entweder selbst aus der Gemeinschaft zurückgezogen oder wurden ausgegrenzt, weil sie anders sind. Einer meiner wichtigsten theologischen Väter ist Ulrich Bach. Der sagt: Das Entscheidende bei den Wundergeschichten Jesu Christi ist: Er holt Menschen, die ausgegrenzt sind, weil sie krank sind, behindert sind oder einen unbeliebten Beruf haben, wieder in die Gemeinschaft. In meinem Buch bilden Menschen eine Gemeinschaft, die in der Großcommunity nie ihren Platz gefunden haben. Und da haben wir auch als Kirche unsere Stärke: Wir schaffen Gemeinschaft und Räume für Menschen, die am Rande stehen.

Wird es eine Fortsetzung geben?

Ja! Ich habe Teil drei gerade fertiggestellt. Teil zwei, "Das Geheimnis der Raunächte", liegt schon beim Verlag und ich hoffe, dass er vor Weihnachten erscheint. Ein vierter Teil ist in Planung. Das soll aber der letzte sein.

Produktinfo

Nils Petersen - Veljkos Café. Das Erwachen der Elemente
Wortschatten Verlag, 2023
352 Seiten
17 Euro

Klappentext:

Während der Prophet Obadja seinen täglichen Kaffee in Veljkos Café trinkt, hat er eine Vision. Auf der anderen Straßenseite ist ein Mord passiert. Bevor die Polizei da ist, hat er das Verbrechen bereits gesehen. Kurz darauf wimmelt es auf der Detlev-Bremer-Straße nur so von Polizistinnen und Polizisten. Das Opfer ist nicht unbekannt. Berit von der Bremer war eine in die Jahre gekommene Prostituierte, die ihren Arbeitsplatz gegenüber vom Café hatte.

Als die Kommissarin Paula Philipp die Ermittlungen aufnimmt und ein Foto des Opfers im Café herumzeigt, bekommt Obadja einen Schrecken. Natürlich wird Berit von den meisten erkannt, wie sie da steht mit ihrem lahmen Bein und auf einen Stock gestützt. Aber der Stock ist nicht einfach eine Gehhilfe, sondern Obadja erkennt ihn in diesem Moment als den legendären Aaronstab. Ein mächtiges magisches Artefakt aus alter Zeit, von dem er geglaubt hatte, dass es gar nicht mehr existiert. Er ahnt, dass nicht nur er in Gefahr ist.

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Sehr interessant aber auch weit weg von meiner Oma im langem schwarzen Kleid und ihrer pietistischen Weltsicht. Aber auch meine andere Oma mit ihren Erbauungsliedern und unsere tägliche Frühstücksleseminute mit dem Neuenburger Kalender (Phrasen wie ein Horoskop) wären mit Herrn Petersen hart ins Gericht gegangen. Der Katholizismus hat einen guten Grund, neuen transzendentalen Erleuchtungen nicht zuviel Raum zu geben. Sonst entgleiten zu viele Teilkirchen wie in Südamerika und Afrika noch schneller als jetzt schon. Deshalb auch Stopp für den synodalen Weg. Die Protstanten mit ihrem Wildwuchs und der AFD-Gründung in einer Kirche sind für Rom ein warnendes Beispiel. Aber das mittelalterliche Episkopat wird die Welt nicht wieder zu Scheibe machen.

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Die Hinwendung zur Fantasy, oder zum Schlaraffenland, hat sehr viel mit Un-/Aberglaube im Sinne der konfus-gepflegten Bewusstseinsschwäche seit der "Vertreibung aus dem Paradies" zu tun, denken sie mal darüber nach, Herr "Pfarrer".