Es gibt viele heilige Orte in Bolivien – weltbekannte und abgelegene, nur von der lokalen indigenen Bevölkerung verehrte. Einer der Orte, der auf ganz Bolivien, wenn nicht auf ganz Südamerika ausstrahlt, ist Copacabana, der Wallfahrtsort am Titicacasee.
Jörg Kohler-Schunk
Copacabana war schon in vorkolonialer Zeit ein wichtiger heiliger Ort. Bereits 1583 wurde dort eine "schwarze" Madonna aufgestellt, die ein Inka-Nachfahre geschaffen hat. Die Figur machte den Ort auch zu einem christlichen Wallfahrtsort.
Die Madonna wurde nach und nach in ganz Südamerika verehrt, so auch in Rio de Janeiro. Dort baute man für die "Jungfrau von Copacabana" eine Kapelle, die dem angrenzenden Strand den weltberühmten Namen Copacabana gab.
Das bolivianische Copacabana liegt unglaublich schön inmitten des Titicacasees. Ein steiler Berg, der unmittelbar aus dem See aufragt, thront über der Madonna. Ein Kreuzweg mit 15 Stationen führt nach oben. Der Aufstieg ist so steil, dass ich einmal eine Frau stöhnen hörte: "Wie groß müssen meine Sünden sein, dass ich diesen steilen Berg hochgehe!"
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Aber die meisten Menschen gehen diesen Berg nicht hoch, um für ihre Sünden zu büßen, sondern weil sie ein Anliegen an die Jungfrau von Copacabana haben. Aber sie bitten nicht nur die Jungfrau um ihren Segen und die Erfüllung ihrer Wünsche. Ungefähr auf der Hälfte des Weges befindet sich eine große Plattform mit mehreren Steintischen. Sie sind in Richtung der Sonneninsel angeordnet, dem mythischen Ursprungsort der Inkas, die der Mythologie zufolge dort vom "Sonnengott" gezeugt wurden.
Auf der Plattform ragt auch ein großes Kreuz auf, die Inschrift macht klar, worum es hier geht: Hier kann man sich den Segen für seine Wünsche geben lassen. "Challa" heißt das auf Bolivianisch und bezieht sich auf einen Opferritus für die Pachamama, die "Mutter Erde" in der Kosmologie der Völker in den Anden. Ihr zu Ehren wird in Bolivien gerne Bier auf die Erde gespritzt, nicht nur in religiösen Ritualen, sondern bei jedem Fest!
An diesen Ort bringen die Menschen ihre großen und kleinen Wünsche. Nicht nur in Worten, sondern in kleinen Modellen. Es sind Zeichen des Wohlstands: Die Miniaturautos, kleinen Grundstücke, Häuser oder einfach Gebinde von Spielgeld kann man unten im Ort oder auf dem Berg kaufen. Diese bringt man zum Yatiri, einer Art "Priester", der dann einen Ritus mit vorchristlichen und christlichen Symbolen vollzieht, bei dem wohlriechende Kräuter für die Bittenden verbrannt werden. Danach werden sie mit dem Bild der Jungfrau gesegnet – und natürlich wird zum Schluss Bier auf die Erde geschüttet. Alle himmlischen Mächte, die christlichen und die vorchristlichen, sollen helfen, damit in Erfüllung geht, was sich die Menschen ersehnen.
Zunächst dachte ich, es handle sich bei diesen Ritualen um uralte Zeremonien. Aber als ich mit meinem Spanischlehrer darüber sprach, erzählte er mir, diese Riten gäbe es erst seit den 1970er Jahren. Er sagte: "Damals begannen wir an Wohlstand zu denken." Zuvor hatten alle nur einen Wunsch: gegen die (Militär-)Diktatoren die Demokratie wiederzugewinnen.
Heute hat sich die Sehnsucht nach Wohlstand durchgesetzt, auch oder gerade weil Bolivien zu den Ländern mit dem niedrigsten Lebensstandard in Südamerika gehört. Diese Sehnsucht kommt in vielen Ritualen zum Ausdruck, zum Beispiel auch auf dem Alasitas-Markt in La Paz, auf dem man Anfang des Jahres jeden Abend seine Wünsche und Sehnsüchte en miniature erwerben oder – noch besser – sich schenken lassen kann. Ob die Wünsche wahr werden? Die Hoffnung erwacht wohl jedes Jahr neu.