Zuschauen ist eine typisch menschliche Tätigkeit. Es erlaubt uns, bei etwas dabei zu sein, ohne es selbst erleben zu müssen. Am liebsten schauen wir bei etwas zu, das uns interessiert, das wir aber selbst (noch) nicht erleben wollen. Dem Sterben zum Beispiel.
Zwei der berühmtesten Sterbenden in der Geschichte sind wahrscheinlich Sokrates und Jesus. Der antike Philosoph geht erhobenen Hauptes in den Tod. Zum Tode verurteilt, trinkt Sokrates den Becher mit dem tödlichen Gift, aber vorher erklärt er seinen versammelten Freunden noch die Welt. Jesus stirbt ganz anders. Römische Truppen nehmen ihn gefangen, foltern und kreuzigen ihn brutal. Welterklärung gibt es von ihm nicht. Höchstens bildreiche Worte, die gedeutet werden müssen.
Sokrates und Jesus symbolisieren menschliche Kraft und menschliche Schwäche und lehren uns, wie unterschiedlich Menschen sterben. Sokrates schreitet - Jesus fügt sich. Zu schreiten ist etwas Erhabenes, sich zu fügen bedeutet, ausgeliefert zu sein. Die neue RTL+-Serie "Sterben für Anfänger" lenkt den Blick auf die sokratische Art des Sterbens. Das hat den Vorteil, dass das wirklich schwere Thema die Zuschauer und Zuschauerinnen nicht niederdrückt. Der Preis dafür ist, dass die Hässlichkeit des Todes, der Dreck, das Leiden, das jesuanische Sterben außen vor bleiben - und die Serie ein recht einseitiges Bild vom Sterben zeichnet.
Konstantin Sacher
Die eindrücklichste der sechs Episoden ist die fünfte. TV-Moderator Steffen Hallaschka fährt in die Schweiz und trifft Stephanie Kessel, die Mundhöhlenkrebs in einem nicht therapierbaren Stadium und schlimme Schmerzen hat. Sie lernen sich kennen, keine 24 Stunden, bevor sie sich selbst im Zuge eines assistierten Suizids eine tödliche Infusion verabreicht. Frau Kessel ist ein echter Sokrates. Trotz ihrer schweren Erkrankung und der Schmerzen lacht sie, herzt ihren Mann, der die ganze Zeit dabei ist, verteilt noch fünf Minuten vor ihrem Ende Kinderschokolade an alle und schläft schließlich mit einem seligen Gesichtsausdruck ein. Die Zuschauer sehen alles. Hallaschka erklärt, dass er selbst überrascht war, dass Frau Kessel ihn und das Fernsehteam dabeihaben wollte. Die Aufnahmen zeigen, dass sie und nicht Hallaschka die Situation bestimmt.
Der TV-Moderator Hallaschka und die Dragqueen Olivia Jones führen durch die Serie und machen sich unter der Anleitung eines "Reisebüros für die letzte Reise" auf, sterben zu lernen. Sie besuchen auch Angie und Vanessa, eine dreifache Mutter aus dem Taunus, die von ihrer Diagnose während der dritten Schwangerschaft erfuhr. Angie ist vor der Ausstrahlung der Serie verstorben, bei Vanessa sind Metastasen im Kopf gefunden worden. Wie es bei Angie am Ende war? Und wie es bei Vanessa am Ende sein wird? Eher wie bei Sokrates oder wie bei Jesus? Das lässt die Serie offen.
Hallaschka und Jones sprechen auch mit einem Bestatter und helfen beim Versorgen eines Verstorbenen. Hallaschka trifft einen Gerichtsmediziner und hilft bei einer Obduktion. Jones besucht einen Forensiker und lernt etwas über Verwesung. Die Zuschauer sehen aufgeschnittene Menschenkörper und von Maden zerfressene Tierkadaver. Hallaschka und Jones reflektieren darüber und nehmen dem Gesehenen so teilweise das Schockierende. Sie sind nachdenklich und suchen nicht nach der Sensation.
Gebrochen wird die ernste Erzählung durch viel Lachen. Jones und Hallaschka verabreden sich mit einem Medium, um Kontakt zu Verstorbenen aufzunehmen (klappt nicht), gehen mit echten Ghostbusters auf die Jagd (finden aber keine Geister) und lassen sich von Nahtoderfahrungen berichten (die wirken kitschig und unglaubwürdig). Jones steckt immer in einem ihrer hautengen, knallbunten Kleider und erreicht schon allein durch die Art, wie sie alles kommentiert und in Erscheinung tritt, dass Tod und Sterben an Schrecken verlieren. Sich dem Thema zu stellen, nimmt die Angst; und wer sich jetzt damit beschäftigt, wird im unausweichlichen Moment nicht aus allen Wolken fallen - davon sind Hallaschka und Jones überzeugt.
Die Zuschauer und Zuschauerinnen lernen auch viel über Bestattungsformen, Vorsorgemöglichkeiten, Lebenserwartung und vor allem über den Mut, den Menschen am Ende des Lebens aufbringen können. Alle müssen sterben. Aber nicht alle müssen Angst haben. Man kann trotzdem freundlich und fröhlich bleiben, das ist die Botschaft der Serie.
Das Problem dabei ist nur, dass die sokratische Sterbeweise keinesfalls die Regel ist. Viele Menschen sterben unter Qualen, verzweifelt und in Angst – wie Jesus. Wer traut sich schon zu, ein Sokrates, eine Stephanie Kessel zu sein? Wer also eher ein Jesus ist, wer ruft "Warum, Vater, hast du mich verlassen?", dem wird die Serie vielleicht mehr Angst machen, als Angst nehmen.
Doch das Sterben hat kein Drehbuch, das es zu befolgen gilt. Unser Leben folgt schon genug Regeln, da sollte nicht noch das Ende einem fremden Anspruch folgen müssen. Immer wieder kritisiert die Serie, dass es immer noch zu viele Vorschriften gebe. Etwa den Friedhofszwang oder die Vorbehalte gegen assistierten Suizid in Deutschland. Wie ein Mensch sterben will und was mit seinen körperlichen Überresten geschieht, das sollte jede und jeder selbst entscheiden - das ist eine Botschaft der Serie. Glücklich ist, wer nach sechs Folgen als Zuschauer ausschalten und das Sterben erst einmal den anderen überlassen kann.
Sterbehilfe
Wieso in diesem Artikel Sokrates gegen Jesus ausgespielt wird verstehe ich nicht. Religion schafft sich offensichtlich selbst ab. Haben die Schreiberlinge schon mal was von Hermeneutik gehört? Ich bin nicht generell gegen Sterbehilfe, aber wie oberflächlich ein ernstes Thema angegangen wird, stört mich und die Seitenschläge gegen Jeus Christus sind völlig überflüssig.
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Wer traut sich schon zu, ein
Wer traut sich schon zu, ein Sokrates, eine Stephanie Kessel zu sein“, beklagt Herr Sacher. Ich werde ihn wohl auch enttäuschen. Eigentlich dachte ich ja, irgendwann sei es gut mit dem Einfordern von Leistung. Ich denke unbeirrt, dass es wenigstens beim Sterben nicht um Wettbewerb geht, dass wenigstens hierbei jeder und jede so sein darf wie sie ist. Zumindest ist das eine Grundüberzeugung der Hospiz- und Palliativarbeit, die allerdings in dem Artikel nicht mal erwähnt wird. Und das, obwohl in diesem Bereich sicherlich mit großem Abstand die meisten Menschen haupt- und ehrenamtlich arbeiten, die sich mit dem Sterben auseinandersetzen. Zumindest zahlenmäßig sind Ghostbuster und Forensiker dagegen wohl eher zu vernachlässigen.
Am meisten ärgert mich allerdings die Schlichtheit der Argumentation, wie einfach schöner sterben sein kann. „Jones steckt immer in einem ihrer hautengen, knallbunten Kleider und erreicht schon allein durch die Art, wie sie alles kommentiert und in Erscheinung tritt, dass Tod und Sterben an Schrecken verlieren.“
Es ist empathielos zu behaupten, dass das Sterben so banal mit bunter Kleidung den Schrecken verliert. Nach jahrelanger Palliativarbeit glaube ich zu wissen, dass der Schrecken der Endgültigkeit des Todes und die Trauer, sich von allem verabschieden zu müssen, was uns lieb und teuer ist, bleiben. Trotzdem wird auch in der Palliativarbeit viel gelacht und Schokolade gegessen, denn diese Trauer ist ja nicht immer dominant und präsent. Natürlich passen Fröhlichkeit und Sterben zusammen, das weiß jeder und jede, die auch nur einen Tag auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz verbracht hat. Da ist wirklich nichts neu und überraschend.
Karin Lackus
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