Samira lernt in einem alten Kuhstall von den großen Ereignissen der Weltgeschichte. Im Schneidersitz hockt die 17-Jährige mit ihrer Schwester auf einem roten Teppich, vor ihr ein Tisch aus blauem Plastik, von den Wänden fällt der Putz. "Der Zweite Weltkrieg begann 1939", sagt Kiana*, die Lehrerin, und schreibt die Jahreszahl mit Kreide auf ein schwarz gestrichenes Stück Wand, das als Tafel dient. Samira beugt sich über ein ausgefranstes Heft und notiert das Datum. Gemeinsam mit ihrer Schwester besucht sie eine geheime Mädchenschule in einem Vorort von Kabul.
Merlin Gröber
Johanna-Maria Fritz
In ihrem Klassenraum, dem alten Kuhstall, haben die jungen Frauen Sprüche auf gelbe, rote und blaue Plakate gemalt und sie an die Wände gehängt.
"Freiheit bedeutet nicht, dass wir tun können, was wir wollen", hat die Schülerin Safia auf ihr Plakat geschrieben, "sondern, dass wir tun können, wozu wir berechtigt sind."
Wozu berechtigt? Das ist die Frage. Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 änderte sich das Leben in Afghanistan schlagartig. Die Islamisten verboten Frauen, allein öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, sie setzten strengere Kleidervorschriften durch und schlossen Schulen. Inzwischen sind Grundschulen für Mädchen wieder geöffnet, nicht aber der große Teil der Mädchenschulen ab Klasse sieben. Die Taliban, hieß es, wollten erst ein "sicheres Lernumfeld" schaffen, das den Regeln des Islams entspreche, bevor Frauen in höhere Schulklassen zurückkehren könnten.
Als die Taliban kamen, verlor sie ihre Arbeit
Manche Frauen warteten nicht auf die Einlösung dieses Versprechens – und gründeten geheime Schulen, wie Kiana in ihrem Kuhstall. 30 Mädchen und junge Frauen, darunter Samira, lernen hier in Gruppen von acht bis zehn Schülerinnen. Kiana, Anfang 30, mit rundlichem Gesicht und dunklen Haaren, die unter dem Kopftuch hervorschimmern, hat Literaturwissenschaft studiert und unterrichtete an einer privaten Universität. Daneben arbeitete sie für die alte Regierung in der Verwaltung, wo sie elektronische Ausweise ausstellte.
Als die Taliban kamen, verlor sie ihre Arbeit. Und als sie aus Geldnot ihre Kuh verkaufen musste, räumte Kiana den Stall aus, legte Teppiche auf den Boden und malte die "Tafel" auf die Wand. Dann ging sie in die Nachbarschaft und klopfte bei Familien, von denen sie wusste: Dort wohnen Mädchen und junge Frauen, die jetzt nicht mehr zur Schule gehen können. Lohn verlangt sie nicht für den Unterricht, sie zahlt sogar drauf: "Jeden Tag fragen mich die Mädchen, ob ich Notizhefte und Stifte für sie habe, weil sie kein Geld haben, selbst welche zu kaufen."
"Wie positionierte sich Afghanistan im Zweiten Weltkrieg?", fragt Kiana ihre Schülerinnen. Die Geschichtsstunde ist fast zu Ende, in zwei Tagen sind Prüfungen. Kiana möchte wissen, wie viel ihre Schülerinnen in den vergangenen Monaten gelernt haben. Drei Stunden pro Tag knien oder sitzen Samira, ihre Schwester und die anderen in dicken Jacken auf dem Teppich im Kuhstall, auf dem Kopf weiße Hidschabs. Sie tragen, was ihnen von ihren alten Schuluniformen geblieben ist.
"Die Taliban haben sich verändert", sagt der Talib
Durch die offene Tür fällt Sonnenschein in den kleinen Raum, über die hölzernen Treppenstufen krabbeln Ameisen. Immer wieder klopft es an dem blauen Tor aus Eisen, das von der Straße in den Innenhof führt. Die Schülerinnen kommen zeitlich versetzt in den Unterricht. Sie wollen in der Nachbarschaft nicht zu viel Aufsehen erregen. Kiana fragt erneut: "Wie positionierte sich Afghanistan im Zweiten Weltkrieg?" "Afghanistan war neutral", antworten die Schülerinnen zusammen. Kiana nickt. "Sehr gut."
Glaubt man Aziz Ahmad Rayan, dann haben Mädchen und Frauen wie Kiana und ihre Schülerinnen in Afghanistan auch unter der neuen Regierung nichts zu befürchten. Rayan ist Pressesprecher im Bildungsministerium der Taliban. Im Januar 2022 empfängt der 32-Jährige den Reporter und die Fotografin aus Deutschland. Der Weg in sein Büro führt durch schwere Metalltore, an denen bärtige Männer mit Schnellfeuergewehren wachen. Rayan trägt eine schwarze Weste über weißem Hemd. Der Bart ist akkurat gekämmt, ein dunkler Turban bedeckt sein Haar. Rayan lässt Kekse und Kaffee auf einem Tisch mit Plastikblumengesteck – rote Rosen – servieren.
"Am 21. März wollen wir die Schulen wieder öffnen", kündigt Rayan da noch an. Alle Klassen, für alle Geschlechter. Erst im März? "Uns ist es wichtig, sicherzustellen, dass Mädchen und Jungen vollständig voneinander getrennt zur Schule gehen", sagt Rayan. Auch die Universitäten sollen wieder öffnen, Frauen dürfen studieren, das sei wichtig. "Wir brauchen die Frauen in der Medizin und der Bildung", sagt Rayan. Und wenn eine Frau Pilotin werden möchte? "Auch das darf sie werden, solange sie einen Hidschab trägt", sagt Rayan. "Die Taliban haben sich verändert", behauptet er. "Wir sind gebildeter geworden, wir wissen jetzt mehr." Der Pressesprecher nimmt einen Schluck Kaffee und fährt fort: "Vor 20 Jahren waren die Taliban wie ein 20-jähriger Jugendlicher. Jetzt sind die Taliban wie 40-jährige Männer geworden – erfahren, weise und gebildet."
Es gibt keine Sicherheit mehr für sie als Frau
In Kianas Schule erzählen die Mädchen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Die Berufswünsche sind vielfältig, sie reichen von Pilotin über Lehrerin bis Freestyle-Skifahrerin. Die Sorgen sind bei allen ähnlich. Und sitzen tief. Samira, die 17-Jährige, will Chirurgin werden, hat aber kaum noch Hoffnung, dass das möglich ist. Sie sagt: "Ich möchte frei sein." Ihre kleine Schwester Elma, 15, denkt in Richtung Computerwissenschaften und will nach Deutschland oder in die Türkei auswandern.
Die 19-jährige Sarah ist die mit dem Freestyle-Skifahren. Sie liebt den Winter, weil die Luft klar ist, wenn es schneit. "Als Frau in Afghanistan Skifahrerin zu werden, war bereits vor der Machtübernahme der Taliban schwierig", sagt sie.
Jetzt sei es unmöglich geworden. Jeden Tag, erzählt Sarah, habe sie Angst, das Leben werde immer härter. Inzwischen habe sie das Gefühl zu sterben, weil es keine Sicherheit und Zukunft mehr für sie als Frau in Afghanistan gebe. Zur Schule geht Sarah trotzdem, weil sie meint, dass nur ein Land mit gebildeten Menschen eine Zukunft hat.
Fatiha möchte Romane verfassen und zeichnet gern. "Ich will über Frauen schreiben, die Hoffnung finden", sagt sie. Als sie ein Kind war, erzählt die 16-Jährige, wäre sie lieber ein Junge gewesen, "weil Jungs mehr Sachen machen dürfen". Inzwischen sehe sie das anders, denn "im Leben geht es darum, eine gute Person zu sein, das Geschlecht ist egal". Wenn Fatiha traurig ist, hört sie amerikanische Popmusik. "Dann bin ich wieder glücklich – zumindest für einen Moment." – Safia hat sich neben Fatiha auf den roten Teppich gesetzt. Sie ist 20 Jahre alt und hätte vergangenes Jahr ihren Schulabschluss gemacht, wären die Taliban nicht an die Macht gekommen. Als Pilotin würde sie gern in fremde Länder fliegen. Jetzt, sagt sie, sei sie müde und wolle nicht mehr auf der Erde leben. Sie wolle lieber in den Himmel.
"Seit die Taliban da sind, sitze ich den ganzen Tag zu Hause"
"Freiheit ist ein Recht, kein Geschenk", hat Safia auf ihr buntes Plakat an der Wand geschrieben: "Freiheit wird nicht gegeben, sondern genommen."
Einen Monat nach der Machtübernahme der Taliban, zu Beginn des Unterrichts, waren 40 Mädchen und junge Frauen gekommen, erzählt die Lehrerin. Fünf Monate später sind noch 30 übrig. Den meisten ging es wie der 16-jährigen Sana, die vor ein paar Wochen von ihrem Vater gegen ihren Willen an einen Bäcker verheiratet wurde – für einen Jahresvorrat an Fladenbrot. "Sana hätte dieses Jahr ihren Schulabschluss machen können", sagt die Lehrerin. Das Mädchen habe sich an die Weinreben neben dem Eingangstor geklammert und geweint, als der Bruder sie abholen wollte. Dann griff der Bruder sie am Arm und nahm sie mit.
Um 14 Uhr unterbricht Kiana den Unterricht. Kurze Pause. Die Schülerinnen sitzen in der Sonne, flüstern sich Geheimnisse in die Ohren, kichern und lachen zusammen. "Früher war ich mit Freundinnen im Park, habe Geburtstage gefeiert oder bin essen gegangen", sagt Samira. Ihre Augen huschen nervös hin und her, immer wieder blickt sie zum blauen Eingangstor. Seit die Taliban in der Stadt sind, sitze sie den ganzen Tag zu Hause, wenn sie nicht in der Schule ist. Die größte Angst der Lehrerin und der Schülerinnen ist es, von den Taliban im Unterricht erwischt zu werden. Deswegen öffnen die Frauen das Tor nur einen Spalt breit, wenn jemand klopft. Erst vergewissern sie sich, wer draußen steht. Und wenn die Taliban kommen? Verschleppung, Gefängnis, Mord, alles ist vorstellbar, meint Kiana.
"Mein Vater würde mir nie wieder erlauben, das Haus zu verlassen"
Viele Mädchen fürchten nicht nur die Taliban, sondern ihre eigenen Väter. Niemand in der Klasse, sagt die Lehrerin, erzähle dem Vater vom heimlichen Schulbesuch. "Wenn mein Vater herausfindet, dass ich hier zur Schule gehe, schlägt er mich zusammen", sagt Sarah, die Skifahrerin. "Mein Vater würde mir nie wieder erlauben, das Haus zu verlassen", sagt Samira auf dem Boden vor dem blauen Tisch. "Wenn er herausfindet, dass du hier bist, wirst du verheiratet", flüstert die kleine Schwester. Die Väter der Schülerinnen verlassen morgens das Haus und gehen arbeiten, manche betreiben kleine Shops in der Innenstadt. Samiras und Elmas Vater verkauft Düsen für Dampfkochtöpfe. Erst spät abends kommt er wieder nach Hause. Dann sind seine Töchter längst zurück.
"Achte auf deine Worte", hat Samira auf ihr buntes Plakat geschrieben, "denn eine Zunge hat zwar keine Knochen, ist aber stark genug, um Herzen zu brechen."
Nach dem Unterricht setzt sich die Lehrerin auf den Boden unter der selbst gemalten Tafel. Die Nachmittagssonne fällt durch die offene Tür und erhellt den roten Teppich im alten Kuhstall. Warum geht Kiana das Risiko ein und betreibt die geheime Schule? Sie zögert kurz, dann erzählt sie ihre Geschichte. Und je länger die Lehrerin erzählt, desto mehr Tränen rollen über ihre Wangen. Aber sie reißt sich zusammen. Kiana will erzählen.
"Wegen eines Monats verlor ich meine Freiheit"
Während ihrer ersten Herrschaft über Afghanistan, zwischen 1996 und 2001, verteilten die Taliban in Moscheen Hefte an Kinder, auch in Kianas Heimatstadt. Dort entdeckte ein Talib das Mädchen, kam abends zum Vater und verlangte, Kiana zu heiraten. Glücklicherweise war Kianas Cousin im Haus, der Vater behauptete, die Tochter sei bereits mit dem Cousin verlobt. Der Talib zog ab. "Jetzt mussten wir schnell einen Ehemann finden, und ich wurde einem Bauern aus dem Nachbardorf versprochen", sagt Kiana. "Ich war zehn Jahre alt."
Einen Monat später fand der Anschlag aufs World Trade Center statt, die Amerikaner marschierten in Afghanistan ein, die Taliban zogen sich zurück. "Wegen eines Monats verlor ich meine Freiheit und wurde verheiratet", sagt Kiana. Sie wischt ihre Wangen trocken. "Ich weiß, wie gefährlich es für die Mädchen ist, in religiöse Schulen zu gehen. Deswegen unterrichte ich die Mädchen hier." Als die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen, habe es sich angefühlt, als hätte jemand einen Steinsack gegen ihren Kopf geschlagen, sagt Kiana. Es folgten wochenlange Kopfschmerzen, Tränen. Dann wusste sie: Ich muss etwas für die Mädchen tun.
Ihre Schule sei mehr als ein Ort zum Rechnen und Schreiben. Eine Schulausbildung sei der einzige Weg in die Freiheit. Die Lehrerin harrt noch immer auf dem Boden des Kuhstalls aus. Die Sonne ist hinter den Häusern der Nachbarn verschwunden, es ist kalt im kleinen Raum.
"Durch Bildung und die Möglichkeit zu arbeiten, sind die Frauen und Mädchen in Afghanistan selbstbewusst und frei geworden", sagt Kiana. "Wir haben unser eigenes Geld verdient, konnten selbst bestimmen, wofür wir es ausgeben." Jetzt sind die Frauen wieder von ihren Männern abhängig. Wie könne jemand, der vorher frei war und nun von jemand anderem abhänge, stolz sein?
"Einige beschimpfen mich in unserer Straße"
Wie lange sie ihre Schule noch unentdeckt betreiben kann, weiß Kiana nicht. Ihr Mann habe nichts gegen den heimlichen Unterricht, sie habe ihm Lesen und Schreiben beigebracht, er wisse, wie wichtig Bildung sei. Aber in der Nachbarschaft, sagt Kiana, wüssten viele Bescheid. "Einige beschimpfen mich, wenn ich durch unsere Straße laufe." Vielleicht, sagt Kiana, sei sie bereits verraten worden – vor einigen Tagen habe ein Talib sie verfolgt. "Als ich das bemerkte, habe ich mich so erschrocken, dass ich gestolpert und gestürzt bin."
Kiana rappelte sich auf und rannte davon, so schnell sie konnte.
Ob sie manchmal ans Aufhören denkt? "Das kann ich nicht", sagt Kiana. "Ich will nicht, dass es den Mädchen so ergeht wie mir damals." Alles, was sie wolle, sagt Kiana, seien ein Job und ein friedliches Leben. "Aber ich glaube, dass ich beides nie wiederhaben werde." Kiana wirft einen Blick durch die offene Tür in ihren kleinen Garten und fügt hinzu: "An manchen Tagen denke ich, es wäre besser zu sterben."
Auf Safias Plakat steht: "Die stärksten Menschen sind nicht immer die, die gewinnen, sondern diejenigen, die nicht aufgeben, wenn sie verlieren."
Es ist nicht ganz einfach, in Kabul jemanden zu finden, der sich offen kritisch über die Bildungspolitik der Taliban äußert. Amid ist dazu bereit, aber zu seinem eigenen Schutz will er nicht seinen richtigen Namen nennen. Der Juraprofessor an einer privaten Universität und frühere Schulleiter wartet in einem Restaurant, wenige Kilometer von den Stahltoren und den Plastikblumengestecken des Bildungsministeriums entfernt.
Selbst Amids düstere Prognose war zu optimistisch
Als er hört, dass die Taliban in den vergangenen 20 Jahren weise, erfahren und gebildet wurden, lacht er. "Die Taliban sind älter geworden, aber in den Bergen und der Wüste, nicht in der modernen Gesellschaft", sagt Amid. Die angekündigten Schulöffnungen "seien ein PR-Gag der Taliban". Die Schulen würden zwar aufmachen, prognostiziert er. Neue Regeln würden es aber für Frauen und Mädchen unmöglich machen, sie zu besuchen, sagt er: Steuern, räumliche Trennung, mangelndes Personal. "Allein in Kabul werden 70 Schulen geschlossen bleiben, weil sie nicht ausreichend Räume und Personal haben, um Schülerinnen und Schüler getrennt zu unterrichten."
Zwei Monate später zeigt sich: Selbst Amids düstere Prognose war zu optimistisch. Die Taliban machen ihre Ankündigung nicht wahr. Seit Ende März ist klar: Weiterführende Mädchenschulen bleiben geschlossen.
Noch etwas glaubt Amid: Die Taliban warten nur darauf, international anerkannt zu werden, danach radikalisieren sie sich und setzen rücksichtslos ihre Regeln durch. Vor allem für die Frauen werde das Leben dann gefährlich. Die Afghaninnen seien in den vergangenen 20 Jahren gebildeter und mutiger geworden. "Sie akzeptieren die jetzige Situation nicht", so Amid.
Tatsächlich gingen nach der definitiven Schulschließung Dutzende Frauen in Kabul auf die Straße, protestierten, forderten Bildungsfreiheit. "Die Frauen haben sich verändert, die Taliban nicht", sagt Amid. Nach und nach würden Frauen, die sich widersetzen, verschleppt, weggesperrt und getötet. Die internationale Gemeinschaft müsse den Druck aufrechterhalten. "Die Taliban müssen merken, dass es schwere Konsequenzen hat, wenn sie die Rechte der Frauen nicht einhalten", sagt Amid.
Die Schülerin Fatiha hat eine kleine Liste geschrieben: "Manchmal ist das Einzige, was eine Frau wirklich braucht: 1) eine Hand, um sie aufzufangen, 2) ein Ohr, um ihr zuzuhören, 3) ein Herz, um sie zu verstehen."
"Vögel sind die einzigen Lebewesen, die frei sind"
Zwei Tage, nachdem Samira und die anderen Mädchen vom Zweiten Weltkrieg, vom Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion gelernt haben, ist Prüfung. Die Sonne scheint in den kleinen Innenhof vor dem Kuhstall und erwärmt den Beton der Veranda. Kiana hat die roten Teppiche draußen ausgebreitet. Einzeln huschen die Mädchen durchs Tor, streifen ihre Schuhe ab und setzen sich. Aufgeregt flüstern sie miteinander, kichern und klatschen in die Hände. Kiana verteilt weiße Papierbögen mit den Prüfungsaufgaben. Auf der Rückseite: Kopien elektronischer ID-Karten, Überbleibsel ihrer alten Arbeit. 30 Köpfe unter weißen Hidschabs beugen sich über die Blätter, das Tuscheln verstummt, Bleistifte kratzen über das Papier.
Nach der Prüfung breitet Fatiha, die 16-Jährige, die Schriftstellerin werden möchte, ihre Bleistiftzeichnungen auf dem blauen Plastiktisch in dem alten Kuhstall aus. Sie hat sie von zu Hause mitgebracht: Gedanken und Träume auf vergilbtem Papier.
Das erste Bild: ein Mann und eine Frau an einem Tisch, im Hintergrund fliegt eine Schar Vögel in Richtung Vollmond. "Vögel sind die einzigen Lebewesen, die frei sind", sagt Fatiha. Dann zeigt sie eine Zeichnung mit zerbrochenen Eiern, Schalenfragmente liegen neben Eidottern. Jemand habe die Eier kaputt geschlagen, sagt sie. Für Fatiha sind Frauen wie rohe Eier: Bei zu viel Druck zerbrechen sie.
Auf dem letzten Bild führen Zuggleise durch eine Landschaft aus Gras und Bäumen zum Horizont. "Da hinten", sagt Fatiha und zeigt auf den Punkt, an dem die Gleise im Himmel verschwinden, "da hinten ist die Endstation, da sind meine Träume."
Über die Entstehung der Reportage:
Seit der Machtübernahme patrouillierten Taliban die Straßen Kabuls mit Schnellfeuergewehren auf offenen Pick-up Trucks und zu Fuß. Als ausländischer Reporter ist das Arbeiten in Afghanistan derzeit mit einem Journalistenvisum offiziell möglich. Um so wenig wie möglich aufzufallen und die Frauen und Mädchen der Schule nicht in Gefahr zu bringen, trug das Reporterteam afghanische Kleidung und fuhr mit einem lokalen Fahrzeug bis vor das Eingangstor der Schule.
Sehr geehrter Herr Gröber!
Sehr geehrter Herr Gröber!
Nach 20 Jahren Ausbildung durch de Bundeswehr und andere Armeen hat die afghanische Armee keinen einzigen Schuss abgegeben und widerstandslos die Waffen gestreckt. Daraus schließe ich, dass die Afghanen die westliche Lebensart nicht wollen, sondern ein islamisches Land bevorzugen. Was also soll das Lamentieren über die selbst gewollten Zustände?
Warum schreiben Sie das nicht?
Viele Grüße
Hanns Schneider
Sehr geehrte Frau Gröber,
Sehr geehrte Frau Gröber,
immer, wenn ich Artikel über die Taliban und ihre Handhabung der Bildung für Mädchen lese, frage ich mich, wieviele Taliban es in Afghanistan eigentlich gibt. Auch in Ihrem Artikel klingt es wieder so, als gäbe es in Afghanistan Frauen und Taliban im Gegensatz zu Frauen und Männern in anderen Gesellschaften. Wenn natürlich alle Männer in Afghanistan Taliban sind, dann wird man nur sehr wenig für die Frauen und Mädchen tun können.
Wenn aber die meisten Männer (Brüder, Väter, Ehemänner, Cousins, Neffen usw) keine Taliban sind, würde mich interessieren, wie sie zur Bildung von Mädchen stehen. Wenn sie es ähnlich sehen, wie die Taliban, kann man nicht viel machen. Wenn sie aber eigentlich die Mädchen unterstützen wollen, warum tun sie es dann nicht? Zusammen mit den Mädchen wären sie ja dann eine Mehrheit.
Immerhin waren die Afghanen ja 20 Jahre lang (= eine Generation) nicht unter der Herrschaft der Taliban. Es ist bemerkenswert, dass das anscheinend nichts verändert hat. Insofern ist Ihr Arikel gut geschrieben aber eigentlich nutzlos.
MfG
S. Geissler
München