Sie hatte ihre Geschichte verdrängt
Liliam A., 41, wurde als Prostituierte schlecht behandelt. Heute ist sie eine beliebte Köchin und Bäckerin
Diana Bagnoli
Das neue Leben einer Ex-Prostituierten
Sie hatte ihre Geschichte verdrängt
Lilliam A. wuchs in einer Favela in Brasilien auf. Erst wurde sie von ihrem Großonkel missbraucht, dann geriet sie in die Fänge von Menschenhändlern. Jetzt spricht Liliam
Anja Meyer
25.08.2021
4Min

Liliam A., Jahrgang 1980:

Wenn ich backe und koche, geht es mir gut, ich vergesse die Welt um mich herum. Als Kind hatte ich oft nicht genug zu essen. Ich lebte bei meiner Oma in einer Favela in Brasilien. Als ich sechs war, hat sich der Bruder meines Opas an mir vergangen. Wieder und wieder. Es tat entsetzlich weh. Ich traute mich nicht, es meiner Oma zu sagen.

Als es mit meinem Großonkel immer ­schlimmer wurde, lebte ich mit einer Clique auf der Straße. Wir ­klauten, um zu überleben. Einmal kam eine nette Frau auf mich zu, sie gab mir Kleider und etwas zu essen. Eines Tages lud sie mich zu einem Ausflug ein. Der schöne Ausflug endete in einem Bordell. Ich war zehn Jahre alt. Die Menschenhändler nehmen gern Straßenkinder.

Ich wurde schwanger, mit 14 Jahren kam mein Sohn zur Welt. Meine Oma kümmerte sich um ihn, während ich versuchte, auf der Straße Geld für uns zu verdienen. Die Touristen, auch Deutsche, mochten "kleine Frauen", wie sie uns nannten. Bald landete ich wieder in einem Bordell. Ich war nun erpressbar: Wenn ich nicht richtig arbeitete, würde mein Sohn darunter leiden, hieß es. Ich wurde ­mit anderen nach Deutschland verkauft. Dort, so das ­Versprechen, könnte ich Geld für mein Kind verdienen und nach Hause schicken.

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Ende 1994 landeten wir in Düsseldorf. Mein ­Zuhälter vermittelte mich wochenweise an Pädophile. Egal, wie schlimm die Typen waren, ich habe immer wieder gehofft, bleiben zu dürfen. Ich wollte so sehr ein Zuhause. Ich wollte, dass sich die Männer in mich verlieben. ­Ich ­wusste damals nicht, dass diese Männer niemals ­eine Pros­tituierte heiraten würden. Ich habe geputzt für sie, ihre Wäsche gewaschen, gekocht und gebacken. ­

Irgendwann kapierte ich, dass der Mann, der mich gerade ­gemietet ­hatte, Frau und Kinder hat. Die nur in Ferien gefahren waren. Und er lebte zu Hause seine perversen Fantasien aus, gern auch im Kinderbett. Ich war ständig auf der ­Suche nach Koks und Tabletten. Ohne Drogen lässt sich das Leben als ­Prostituierte nicht ertragen.

"Du kannst doch so toll kochen und backen, warum suchst du dir nicht einen Job in einem Restaurant?" Diese Frage einer anderen Prostituierten wurde zum Wendepunkt. Mit so einer Arbeit könnte ich meinen Sohn zu mir holen – mein Traum.

Aber er verliebte sich in mich

Sie gab mir die E-Mail-Adresse eines Bekannten, der in Mailand ein Restaurant hatte: ­Carlos. Weil ich in der Mailadresse einen Zahlendreher hatte, landete ich bei einem anderen Carlos – der lebte in Turin, nicht in Mailand, hatte kein Restaurant, sondern war beim Militär. Aber er verliebte sich in mich. Wir ­heirateten, bekamen zwei wunderbare Kinder; und er ­adoptierte meinen Sohn.

Zufällig kam ich damals an einer Bushaltestelle mit einem Brasilianer ins Gespräch, der schimpfte, dass es in ganz Turin kein vernünftiges brasilianisches Essen gebe. "Gib mir Geld und ich koche für dich", sagte ich. Ich hatte mir viel von den Köchinnen in den Bordellen abgeschaut. Der Mann gab große Partys, auch die Stars vom Juventus Turin gingen bei ihm ein und aus. Mamma mia! Mein ­Essen und meine Torten waren schnell beliebt. Ich ­gründete das Cateringunternehmen "Liliam Buffet".

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Leider ist meine Geschichte hier noch nicht zu Ende. Ich hatte meine Vergangenheit verdrängt. Ich war froh, diesem Elend entkommen zu sein. Als Prostituierte wirst du wie der letzte Dreck behandelt. Mir hat das Backen Selbst­bewusstsein gegeben. Eine Kochschule für Prostituierte – dieser Gedanke ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ich fing an, offen über meine Vergangenheit zu reden. Das war zu viel für Carlos. Ich hatte ihm nie viel erzählt. Er zog sich mehr und mehr zurück. Auch mein ältester Sohn will nichts mehr von mir wissen. Aber ich muss darüber reden! Es macht mich frei. Und ich möchte anderen Frauen helfen. Prostitution ist keine Arbeit, Prostitution zerstört die Seele und die Würde einer Frau. Darum nehme ich inzwischen auch an Konferenzen in Deutschland teil.

"Wenn ich Torten backe, geht es mir gut. Dann bin ich wie ein Kind, das die Welt um sich herum vergisst"

In der Pandemie konnte ich keine Torten verkaufen. Jetzt habe ich wieder Hoffnung: Die Menschen in Turin wollen wieder feiern, heiraten, große Partys geben. Mit Liliams Kuchen. Und die werden ihnen schmecken, auch wenn sie meine Vergangenheit kennen.

Protokoll: Barbara Schmid

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