Versperkirche - Diesmal nur die Spätzle
Versperkirche - Diesmal nur die Spätzle
Yvonne Seidel
Diesmal nur die Spätzle
Die Vesperkirche in Stuttgart lädt ein zu gutem Essen, Gesprächen und viel Gemeinschaft. Dieses Jahr nur in kleiner Form. Gut, dass wir 2020 vorbeigeschaut haben!
Dorothee SchöpferJürgen Altmann
13.01.2021

Schnitzelduft hängt über dem Altar, im Kirchenschiff stehen lange ­Tische mit gelben Tischdecken. Viele Männer und vereinzelt auch Frauen sitzen beieinander und essen. Es ist Vesperkirchenzeit. Immer zu Jahresanfang wird die Stuttgarter Leonhardskirche zum Speisesaal, sieben Wochen lang. Bis zu 600 Portionen Maultaschen, gefüllte Paprika oder Linsen mit Spätzle werden serviert. Wer kann und will, zahlt dafür, wer nicht, lässt es bleiben. Die Vesperkirche ist eine Institution in Stuttgart. Hier kommen die Armen zum Essen, und der Oberbürgermeister schöpft aus.

Dorothee SchöpferJürgen Altmann

Dorothee Schöpfer

Dorothee Schöpfer, 53, ­Autorin, kannte die Vesper­kirche von ­ihrer Schwiegermutter, die dort oft geholfen hat. Dass die schwäbischen Hausfrauen zupacken können, ist bekannt. Dass sie sich dabei mit Humor bei Laune halten, hat die Recherche sehr erleichtert.

An einem kalten Wintertag im Februar 2020, als diese Reportage recherchiert wurde, sitzen die Menschen dicht an dicht. Corona ist noch eine Nachricht aus China und keine Bedrohung. Eine ältere Dame packt Fleischreste in eine mitgebrachte Plastikschüssel ein. Neben ihr spricht eine Mutter beim Essen mit ihrer erwachsenen Tochter. Man sieht ihnen an, dass es in ihrem Leben Drängenderes gibt als Flecken auf dem Pullover und verschmierte Schminke.

Mike, 55, ist einer der vielen Stammgäste der Stuttgarter Ves­perkirche. Seit 2005 kommt er mehrmals in der Woche zum Essen hierher. Er ist in Sachsen aufgewachsen, hat als Galvani­sierer, Gebäudereiniger und im Sicherheitsdienst gearbeitet und war lange krank. Er sei über den Berg, erzählt er. "Aber ich habe zu viel Zeit." Er lebe von Grundsicherung und engagiere sich in der Nachbarschaftshilfe. Jetzt sitzt er im gebügelten karierten Hemd am Tisch, lässt sich das Schnitzel mit Soße schmecken und sagt: "Ich bin nicht verbittert. Aber manchmal ein bisschen melancholisch, und ich geniere mich, dass ich mich so durchwurstle." Dass das Essen nichts kostet, findet er falsch: Dann ist es auch nichts wert, meint er. Und erzählt von Roma, die im Jahr zuvor die Wurst vom Brot gegessen und das Brot weggeschmissen hätten.

Die Prominenz soll die Armut sehen

Auf dem Platz vor der Leonhardskirche treffen sich zu jeder Jahreszeit Obdachlose und Drogenabhängige. Eine sechsspurige ­Straße trennt die Kirche vom vornehmsten Kaufhaus der Stadt. Drüben schicke Boutiquen, hier Altstadthäuser, wo Mädchen ihren Körper für zehn Euro im Hauseingang verkaufen.

"Wir machen Armut sichtbar", sagt Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann, die Leiterin der Vesperkirche. Deshalb ist es ihr so wichtig, dass sich die Prominenz hier blicken lässt, dass die Profis vom VfB bei der Essensaus­gabe helfen, die Landtagspräsidentin Muhterem Aras zu Besuch kommt. Die Stuttgarter Ves­perkirche lebt von Spenden, sie braucht rund 350 000 Euro im Jahr. Da helfen der gute Ruf und die Prominenten.

Ehrmann kennt den Vorwurf, dass Institutionen wie die Vesperkirche Armut vielleicht zeitweise linderten, aber nicht strukturell bekämpften. Manche kritisieren gerade auch das, was andere toll finden: dass die Vesperkirche von Jahr zu Jahr professioneller organisiert ist. Dadurch werde eine Spirale des Immer-Mehr, Immer-Besser in Gang gesetzt, die dem Geist des Kapitalismus geschuldet sei und bei der Bekämpfung struktureller gesellschaftlicher Benachteiligung kontraproduktiv wirke.

Gabriele Ehrmann hält dagegen: "Wir ­machen Armut zum Politikum. Ich sehe mich als Fürsprecherin und Anwältin der Armen." Sie lädt Politikerinnen und Politiker zu ­Diskussionsrunden in die Vesperkirche ein, damit sie sich direkt erzählen lassen, wie es sich mit Hartz IV lebt. "Wir ­können nicht alles heilen", sagt Ehrmann. "Aber den Menschen für eine bestimmte Zeit die Türen öffnen und für sie da sein."

Zum Haareschneiden hinter den Altar

In der Vesperkirche gibt es Sprudel, Tee und Kaffee. Den Alkohol bringen viele selbst mit. "Solange die Schnapsflasche nicht allzu offensichtlich kreist, schaue ich weg", sagt Reinhold Schöndorfer, der seit Jahren ehrenamtlich im Ves­perkirchenteam mitarbeitet. Dealer werden nicht geduldet, offensichtlich Bedröhnte schon. "Kann ich heute noch einen Haarschnitt bekommen?", fragt ein junger Mann, seine Pupillen sind riesig, er kann den Blick kaum halten. Im Chorraum ist Friseurin Heike Hübl am Werk. Die Termine sind alle vergeben. "Gut, dann komme ich nächsten Montag noch mal", sagt der junge Mann höflich und setzt sich in ­eine Ecke.

Wem die Portionen zu groß sind, kann sich was ein­packen. Nach dem  Essen bleiben viele, spielen Schach oder lassen ihre Haustiere von der Tierärztin begutachten

"Ich lass mich nicht hetzen", sagt die ­Friseurin, die an ihrem freien Tag von zehn Uhr an hinterm Altar umsonst Haare ­schneidet. Vor ihr sitzt eine ältere Dame mit grünem Lidstrich und Pagenkopf und zeigt das Foto auf ihrer Abokarte für den öffent­lichen Nahverkehr. "Wenn Sie das so ein bisschen stufig schneiden könnten, fallen die Haare nicht ganz so glatt", wünscht sie sich.

Auch eine Fußpflegerin, Ärzte und Tierärzte halten Sprechstunden in der Vesperkirche. Hansmartin Killguss wartet in der Kapelle auf Patienten. "Wir nehmen uns mehr Zeit als der Hausarzt", sagt er über sich und seine Kollegen. "Manchmal hilft schon das Zuhören." Seine Versicherungskarte muss hier niemand zeigen, und wenn sich jemand nicht hineintraut, weil er illegal in Deutschland ist, öffnet Killguss die hintere Kapellentür und macht dort die Anamnese. "Richtige Not­fälle sind selten", sagt er. "Nur manchmal gerät man in ein Dilemma, weil man weiß, was der Patient brauchen würde, das Medikament aber nicht da ist."

2021 ohne Singen und mit Abstand

In der Vesperkirche 2020 wurden die Gäs­te zum ersten Mal bedient, vorher mussten sie vor der Essensausgabe anstehen. Das empfanden viele als demütigend. Die Organisatoren sprachen von einer "Schlange der Schande". "Unsere Gäste erleben in so vielerlei Hinsicht Mangel. Vielleicht haben sie deshalb so wenig Geduld", sagt Reinhold Schöndorfer. Der Frust habe sich oft in wüsten Schreiereien entladen, wenn sich jemand vorgedrängt hat. "Jetzt ist es hier wie im Restaurant", sagte Mike. In diesem Frühjahr 2021 werden die Menschen wohl wieder anstehen müssen. Die Vesper­kirche findet unter Corona-Bedingungen statt. Gemütlich beisammenzusitzen ist nicht möglich.

Singen auch nicht. Aber im Februar 2020 ist das noch selbstverständlich. Rita ist eine attraktive Frau mit roten Locken und roter ­Gesinnung. Sie kommt in die Vesperkirche zum Essen und zur Kultur. Sonntags treten Künstler bei freiem Eintritt in der Kirche auf – von den Stuttgarter Philharmonikern über Jazzmusiker bis zum Chor "rahmenlos und frei", in dem ehemalige Obdachlose und andere "I am sailing" und andere Hits mit großer Hingabe singen. Angeleitet von einem pro­fessionellen Chorleiter.

Hier kostet die Kultur nichts

Rita findet es richtig, dass Kultur nichts kostet. Sie sitzt beim Kaffee mit Daniel, der ­seinen richtigen Namen nicht nennen will. Er ist ­Anfang sechzig und sagt lapidar: "Ich habe schon eine Million in meinem Leben verzockt." Das Geld hat er verdient oder unter­schlagen, die Spielsucht hat sein Leben bestimmt. ­"In diesem Jahre feiere ich meine ­silberne Scheidung. Ich habe das Konto meiner Frau geplündert und den Ehering verpfändet. Und wünsche ihr alles Gute mit ihrem neuen ­Partner", sagt er und grinst ein wenig süffisant. Meint er das ironisch? Für diesen Monat hat er noch 45 Euro, heute ist der zehnte. Zu ­Mittag isst er in der Vesperkirche, das Geld muss aber zumindest für Zigaretten reichen. Er geht vor die Tür und raucht eine Selbstgedrehte aus dem Tabak von billigen Zigarillos. Bevor er geht – und das ist spätestens kurz vor der Andacht um 16 Uhr –, wird er sich noch eine Tüte mit belegten Broten mit nach Hause nehmen. Daniel und Rita sind Stammgäste.

Alle an einem Tisch - so soll es eigentlich sein

Vesperkirche 2021 heißt: Es wird keine ­langen Tische im Kirchenschiff geben, sondern eine Essenausgabe to go auf dem Vorplatz und die Möglichkeit, sich eine Stunde lang bei Kaffee und Tee in der Kirche aufzuwärmen. Seelsorgegespräche und Beratungen finden in der Kirche statt. So der Stand der Planungen Mitte Dezember.

Dieses Jahr werden auch weniger Ehrenamtliche dabei sein. Viele gehören schon aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe. Normalerweise helfen 900 Ehrenamtliche mit, Frauen aus den Vororten Stuttgarts, Kirchenmitglieder, Unternehmen schicken ihre Azubis. Manche nehmen sich extra Urlaub. Wie Susann, die in der Buchhaltung eines großen Unternehmens arbeitet und an jenem Wintertag im Februar vor einem Jahr Käsebrote belegte. 50 Ehrenamtliche sind normalerweise täglich im Einsatz, um das Essen zu schöpfen und zu servieren, Brote zu schmieren, sauberzumachen, Nachschub aus der Großküche zu holen.

Die Organisatoren der Vesperkirche möchten Menschen an einen Tisch bringen, die sich sonst nicht begegnen, weil sie aus unterschiedlichen Milieus kommen. Bei den Ehren­amtlichen klappt das ansatzweise. Aber ­niemand kommt nach dem Shoppen auf der anderen Seite der großen Autostraße noch in der Leonhardskirche auf einen Kaffee oder einen Teller Linsen mit Spätzle vorbei. Die Welten bleiben dann doch getrennt, mit und ohne Corona. Trotzdem ist es gut, dass es die Vesperkirche auch in diesem Jahr wieder gibt, wenn auch in abgespeckter Form.

Infobox

Vesper ist die Bezeichnung für das christliche Abendlob, Schwäbisch für ein kaltes Abendessen. Aber schon bei der ersten Vesperkirche 1995 wurden warme Maultaschen ausgeteilt. Mittlerweile gibt es 34 Vesperkirchen in ­Baden-Württemberg, die in der Saison vor Corona 2018/19 insgesamt 170 000 Mahlzeiten ausgeben haben an 575 ­Ves­perkirchentagen, unterstützt von rund 6600 Ehrenamtlichen.

2021 ver­anstalten coronabedingt wohl nur 25 Gemeinden Vesperkirchen – mit Hygienekonzepten (Stand: Mitte Dezember 2020). ­Ludwigsburg beteiligt sich zum Beispiel mit einer Vesperkirche to go: Zehn Gaststätten geben Essen gegen Bons aus, das Vesperkirchenteam steht für ­Gespräche bereit. In Kirchheim unter Teck sollen die Gäste in zwei Schichten in der Kirche essen, samstags werden Maultaschen in der Innenstadt verteilt.

Eine vorläufige Übersicht finden Sie hier.

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