Kinderbuch - Der norwegische Illustrator Øyvind Torseter
Kinderbuch - Der norwegische Illustrator Øyvind Torseter
Øyvind Torseter/Gerstenberg-Verlag
In den Berg des grässlichen Riesen
Schon als Kind liebte er es, zu werkeln und zu zeichnen. Noch heute fühlt sich der norwegische Illustrator Øyvind Torseter dabei sehr bedeutsam
27.05.2020

chrismon: Wie sind Sie aufgewachsen?

Øyvind Torseter: Auf dem Land, ein paar Stunden von Oslo entfernt, in einer Gegend mit vielen Bauernhöfen, die zum Teil über Generationen im Familienbesitz sind. Inmitten von großen Feldern und mit vielen Tieren. Wenn ich meine Freunde sehen wollte, musste ich eine Weile mit dem Rad fahren. Wir hatten sehr viel Freiheit, solange wir uns von den großen Maschinen und den Silos fernhielten. Fernsehen, Computer, Games spielten kaum eine Rolle. Man hörte nur die Geräusche der Natur und die Traktoren. Ich hatte viel Zeit für mich und werkelte oder zeichnete. Das fühlte sich sehr bedeutsam an, und das ist bis heute so geblieben, auch wenn es damals natürlich noch nicht zielgerichtet war.

Øyvind TorseterØyvind Torseter/Gerstenberg-Verlag

Øyvind Torseter

Øyvind Torseter, geboren 1972 in Hamar, lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Oslo. Er hat am Kent Institute of Art and Design und an der Osloer Skolen for Grafisk Design studiert. Für sein umfangreiches künstlerisches Werk ist er mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Bologna Ragazzi Award 2008. 2011 war er mit "Papas Arme sind ein Boot" für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, 2018 hat er ihn er ihn für "Der siebente Bruder oder das Herz im Marmeladenglas" in der Sparte Bilderbuch erhalten. Hans, der Held, taucht wieder in "Hans sticht in See" (2019) und in "Ein Mann für alle Fälle" ( JULI 2020), erschienen im Gerstenberg Verlag.

Und wie sah es auf dem Hof Ihrer Familie aus?

Der Hof gehörte der Regierung. Dort wurde mit verschiedenen Kornsorten experimentiert. Mein Vater arbeitete als Verwalter. Es standen viele merkwürdige Maschinen und wissenschaftliches Gerät herum. Die Mischung aus Technik, Wissenschaft und normalem Landleben war faszinierend. Das hat wohl auf meine Bücher abgefärbt: die Mischung aus Unbekanntem, manchmal sogar Surrealem und Bodenständigem.

Sie haben jetzt eine Trilogie abgeschlossen, in der die Hauptfigur immer ein gewisser Hans ist. Spiegelt sich Ihre Kindheit in den Geschichten über ihn wider?

Ja, Hans ist eine Art Antiheld, mit dem sich jeder identifizieren kann. Aber stets macht er sich auf eine Reise ins wilde und gefährliche Unbekannte. Und jedes Mal ist seine Ausgangslage denkbar schlecht: Einmal soll er den Troll besiegen, an dem schon sechs Brüder vor ihm gescheitert sind. Ein anderes Mal verliert er an einem Tag seinen Job und seine Wohnung. Und dann wiederum stiehlt ein Doppelgänger sein gesamtes Leben. Aber Hans ist auch alltagspraktisch, ein begabter Bastler und letztlich unerschrocken. Außerdem hat er Charme.

Deshalb findet er jedes Mal ein Mädchen, das ihm hilft.

Genau. Und die ist viel interessanter als die schwache und passive Prinzessin, die man aus traditionellen Märchen kennt. Sie trägt Schnürstiefel, Hoody oder Trenchcoat, ist ironisch und tough und gibt niemals auf. Ich hab sie mir vorher nicht zurechtgelegt, sie ist beim Zeichnen einfach so entstanden. Ich mag sie.

Kennen Sie so eine Frau?

Ich schätze, das ist meine Frau. Darauf hat sie mich aufmerksam gemacht, als das Buch fertig war.

Was interessiert Sie an Märchen?

Ich war schon als Kind fasziniert von der norwegischen Märchensammlung von Peter Christen Asbjørnsen und Jørgen Engebretsen Moe . . .

. . . die – wie die Gebrüder Grimm in Deutschland – norwegische Volksmärchen sammelten und veröffentlichten.

Einige von ihnen sind echt merkwürdig, und das hat ­meine Fantasie beflügelt. Als mein Verlag mir dann den Auftrag gegeben hat, ein Märchen in einer Jubiläums­ausgabe norwegischer Volksmärchen zu illustrieren, habe ich das Genre wiederentdeckt. Ich wollte nicht nur illustrieren, sondern eines auf meine Art erzählen.

Aus dem Volksmärchen "Von dem Riesen, der kein Herz im Leibe hatte" machten Sie "Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas".

Ich kannte das Märchen nicht aus meiner Kindheit. Deshalb hat es mich besonders gereizt.

Was gefiel Ihnen daran?

Ein Prinz, der Jüngste von sieben Brüdern, muss nicht nur die gefangene Prinzessin erlösen, sondern auch seine Brüder. Der Held kreist also nicht nur um sich und sein Lebensglück, er ist nicht so egozentrisch. Das gefiel mir. Außerdem konnte ich zeichnerisch in den Berg des grässlichen Riesen gehen. Das war sehr interessant.

Wie geht man zeichnerisch in den Berg des grässlichen Riesen?

Wenn ich zeichne, entdecke ich gerne etwas Neues. Ich skizziere nur selten etwas vorab: Ich mag es, wenn mein Stift mich führt. Wie ein Kind setze ich einfach mitten auf der Seite an und lege dann los. In diesem Fall habe ich zuerst den Berg des Trolls von innen gezeichnet. Ich habe nichts recherchiert, sondern meine Vorstellung von einem Berg zu Papier gebracht.

An manchen Stellen erkennt man, wie Sie arbeiten.

Ja, ich schneide zum Teil aus selbst hergestelltem Papier aus, und dann sieht man die Ränder. Man sieht, wie meine Bilder gemacht sind.

Der siebente Bruder oder Das Herz im Marmeladenglas. Gers­tenberg Verlag 2017. 120 S., 26 Euro

Warum wollen Sie das?

Das ist eine ästhetische Entscheidung. Es macht klar, dass man seine Fantasie einsetzen muss, um an die Geschichte zu glauben. Ich finde, jede Kunstform sollte eine Spur ihres Machers enthalten. Zu viel Perfektionismus macht sie hermetisch.

Auch für Kinder?

Kinder sind genauso kreativ. Wenn sie spielen, werden Legosteine und Puppen lebendig. Sie beseelen die Dinge.

Sie zeichnen nicht nur, Sie denken sich die Geschichte aus. Wie kommen Sie auf Ihre Ideen?

Ich zeichne immer erst sehr viel, bevor ich schreibe. Ich habe die Charaktere und die Schauplätze im Kopf, aber die Geschichte noch nicht. Beim Zeichnen kommen viele Assoziationen: etwas, was ich als Kind gehört habe, ­Märchen, Geschichten, Comics, auch Fernsehbilder. Zum Beispiel bei meinem Buch "Hans sticht in See" – da hatte ich die Idee, dass Hans nach dem größten Auge der Welt suchen muss. Und dann dachte ich an das Meer und da fiel mir der einäugige Riese aus der Odyssee ein. Dann habe ich ein bisschen recherchiert, aber nicht sehr intensiv.

Warum nicht?

Ich möchte meine eigenen Bilder kommen lassen. Meine Illustrationen sind ein bisschen wie Collagen aus ver­schiedenen Welten und Kunststilen.

Hans sticht in See, Gerstenberg ­Verlag 2019, 160 S., 26 Euro. Beide Bücher übersetzte Maike Dörries

Was fasziniert Sie am Meer?

Schon in meiner Kindheit war das Meer etwas Besonderes für mich. In den 1970er und 80er Jahren sind wir nicht sehr viel gereist. Ans Meer zu fahren war aufregend, regel­recht exotisch. Eine ganz andere Landschaft als die Felder, Seen und Wälder, die ich gewohnt war. Viel drama­tischer. Dieses Gefühl wollte ich in "Hans sticht in See" umsetzen.

Normalerweise ist jede Figur in Märchen und Mythen auf eine Rolle festgelegt. Sie zeichnen aber vielschichtige Charaktere. Warum?

Das macht es spannend. Ich will herausfinden, was geschieht, wenn man die Helden in Alltagssituationen zeigt. Ich mag die Mischung aus großem Drama und Alltagsleben: in Extremsituationen aufs Klo gehen, nachsehen, was im Kühlschrank ist, coole Sprüche bringen, wenn's gefährlich wird. So entsteht nicht nur Komik, sondern das Geschehen rückt auch näher an den Leser heran, weil er ganz viel Vertrautes entdeckt.

Was ist Glück?

Zum Beispiel das, was mein Hans im Glück bei ­seiner ­Irrfahrt auf dem Meer findet: Freundschaft und ­Liebe. ­Eigentlich will er nur Geld verdienen, um seine ­Wohnung wieder bezahlen zu können. Aber das ist am Schluss nicht mehr so wichtig wie das Mädchen aus der Hafenkneipe.

Hans sucht und findet das Auge eines Riesen-ungeheuers. Oder gehört es einem Wal?

Geht es Ihnen auch manchmal so?

Ja, Zeichnen ist oft ganz genauso. Man hat eine Idee und dann geht vielleicht etwas schief. Jetzt hat man die Wahl: Man kann versuchen, den Fehler zu korrigieren, was oft erst recht katastrophal endet. Oder man fängt noch mal von vorne an, wieder und wieder. Oder aber man arbeitet mit dem sogenannten Fehler und findet heraus, wohin die Reise dann geht. Das muss nicht unbedingt besser sein, aber anders. Aber dann muss man sein eigentliches Ziel loslassen. Das kann ein bisschen hart sein. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum viele Kinder irgendwann aufhören zu zeichnen: Ihr Bild wird nicht so, wie sie es sich vorgestellt haben.

Was können Eltern da machen?

Gutes Papier und schöne Stifte im Haus haben. Ein kleines Skizzenbuch kaufen, so groß wie ein Smartphone, das man in die Hosentasche stecken kann. Zusammen malen, aber nicht sagen: "Mal mir was Schönes!" Die Zeichnungen nicht kommentieren. So habe ich es bei meinen Töchtern gemacht. Meine Dreizehnjährige hat mal ein paar Jahre aufgehört zu malen, aber dann wieder angefangen. Man soll da keinen Stress machen.

Und Sie bleiben wirklich dabei locker?

Ja. Ich brauche ohnehin nicht viel Action. Ich sitze gerne da, beobachte das Leben und lasse die Fantasie spazieren gehen. Ich möchte Zeichnen genießen, ein gutes Gefühl dabei haben. Wenn ich es nicht habe, sieht man es den Bildern an. Zeichnen ist für mich ein bisschen wie an ­unbekannte Orte reisen, ohne groß zu wissen, was mich erwartet. Ein Abenteuer in einer sehr sicheren Umgebung. Aber wenn ich nach Hause komme, denke ich nicht mehr viel darüber nach.

Dann lassen Sie Ihre Kunst hinter sich?

Wir haben drei Töchter. Zwei von ihnen sind jetzt Teen­ager, und da ist nachmittags und abends immer was los. Ich genieße es. Besonders, wenn wir Zeit zusammen verbringen, kochen, fernsehen, lesen. Das ganz normale Leben. Und in den Schulferien zusammen verreisen und neue Welten entdecken.

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