17.00 Uhr, Nachrichten in ZDF und ARD. Die Redaktionen vermelden einen Flugzeugabsturz, bei dem am frühen Morgen 120 Menschen ums Leben gekommen sind. Nach einem Triebwerkschaden ist das Flugzeug noch in der Luft brennend auseinander gebrochen. Keiner der Passagiere hat die Katastrophe überlebt. Der Zuschauer nimmt das Unglück mit einem Anflug von Entsetzen wahr. Am Ende des Nachrichtenblocks folgt die Wettervorhersage. Das katastrophale Ereignis über den Wolken tritt wieder in den Hintergrund.
17.15 Uhr. Boulevard-TV im Öffentlich-Rechtlichen. "Brisant" und "hallo Deutschland" schildern den Flugzeugabsturz aus der Sicht eines Betroffenen, eines Vaters, dessen Kind bei dem Unglück zu Tode kam. Die Kamera setzt den Vater, der vor den Augen eines Millionenpublikums weinend zusammenbricht, groß ins Bild. Viele Zuschauer sind berührt. Der Blick auf die persönliche Trauer dieses Mannes lässt sie viel intensiver an diesem dramatischen Schicksalsschlag teilhaben als ein sachlicher Korrespondentenbericht. Der Einblick in die tiefen Verletzungen des Vaters involviert die Zuschauer, sie trauern mit.
Trauer im Fernsehen als Kompensation für echte Trauer?
Die kollektive Trauer des Publikums ist in der modernen Gesellschaft eher ungewöhnlich sieht man einmal von der Massentrauer um Kultfiguren wie Lady Di oder Johannes Paul II. ab. Heute ist für Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen oft nur hinter verschlossenen Türen Platz, im engsten Kreis der Familie. Trauer gilt als Privatsache, so als sei man sich einig, einander nicht behelligen zu wollen. Trauer findet heimlich, isoliert statt. Eine Trauerzeit ist nicht mehr festgelegt. Angehörige verbergen ihren Schmerz, Kollegen und Nachbarn wahren Distanz. In Zeiten, da ganze Industriezweige damit beschäftigt sind, die Spuren des Todes aus unserer Mitte zu entfernen, erscheinen Tod und Trauer erstaunlicherweise immer häufiger auf dem Fernsehbildschirm. Dort auf dem Fernsehbildschirm hat Trauer ihren Ort. Eine Kompensation für echte Trauer, die nicht mehr öffentlich stattfinden darf?
Trauer war einst Bestandteil des allgemeinen kulturellen Erbes. Sie hatte vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert eine doppelte Funktion: Zum einen erlaubte sie der Familie des Verstorbenen, ihren Kummer auszuleben, zum anderen sorgten Trauerrituale auch dafür, die Hinterbliebenen vor einer Übersteigerung des Schmerzes zu schützen. Trauernde wurden von der Gemeinschaft aufgefangen durch Besuche von Angehörigen und Freunden, bei denen sie ihren Schmerz offen zeigen konnten, ohne dass jedoch dessen Äußerung jedes Maß gesprengt hätte. Im 21. Jahrhundert gilt Trauer hingegen oft als Leerlauf. Wer in sein möchte, muss souverän und kreativ, sinnlich und fröhlich sein. Das ist die Botschaft der Werbung, die uns täglich überfällt. Für Schmerz, Kummer und Trauer bleibt da kein Platz. Gemeinschaftliche Trauerrituale werden immer seltener.
Ein in früherer Zeit durch und durch ritualisiertes Ereignis wird gleichsam unsichtbar. Das ist die eine Entwicklung. Ihr steht ein anderes Phänomen gegenüber: dass in den Medien, vor allem im Fernsehen, die Trauer um den Tod eines Menschen das Publikum emotional berührt. Dieses Publikum will alles sehen und bekommt alles gezeigt. Es nimmt Anteil an tödlichen Unglücken, Katastrophen und der Trauer ihm unbekannter Opfer. Das Fernsehen, bislang Fenster zur weiten Welt, wird zur Bühne von Emotionen, auf der es gar nicht eng und dicht genug zugehen kann. Es ist so, als ob erst die Distanz zum Geschehen eigene Gefühlsregungen erlaubt.
Es ist ein TV-Gesetz, dass das Zuschauerinteresse an einer Sendung steigt, wenn sie die Gefühle des Publikums anrührt. So soll denn auch die Berichterstattung über den Tod mehr als nur zur Information der Zuschauer dienen. Das hat Auswirkungen bis zur Themenwahl: Ein qualvoller Tod, in Echtzeit dokumentiert, würde die Zuschauer gefühlsmäßig mehr treffen als eine routiniert aufgezeichnete Pressekonferenz über Hinrichtungen in China.
Auch im Genre der TV-Serien nimmt sich das Fernsehen zunehmend der Trauer an. So wurde in einer Folge der Serie "Dr. Sommerfeld" (ARD) gezeigt, wie die Ehefrau des TV-Arztes tödlich verunglückte. In weiteren Folgen der Serie war ihr Tod immer wieder Thema. Man zeigte den trauernden Ehemann und die Tochter, die über den Tod ihrer Mutter nicht hinwegkam und sich deshalb schließlich in psychotherapeutische Behandlung begeben musste. Ähnlich verhielt es sich in der ZDF-Serie "Forsthaus Falkenau", in der Förstertochter Andrea als Serienfigur starb. Die Trauer des TV-Försters war geradezu grenzenlos und blieb eine ganze Staffel lang mit all ihren Auswirkungen präsent. Trauer als selbstverständlicher Teil des Serienalltags.
Tod und Trauer gehören nicht mehr zu den großen Tabuthemen.
So viel scheint deutlich zu sein: Die zunehmende Präsenz von Trauerbildern im Fernsehen zeigt, dass die Verdrängungsthese ihre Probe nicht besteht. Tod und Trauer gehören heute nicht mehr zu den großen Tabuthemen. Die Gesellschaft verdrängt Tod und Trauer nicht etwa, sie schafft für sie vielmehr neue Symbolisierungsorte. Doch wie ist es zu werten, dass die Trauer ganz anders als im unmittelbaren sozialen Umfeld immer mehr in die Programme einwandert und das Publikum offensichtlich emotional anrührt?
Der medial vermittelte Tod öffnet ein Ventil für einen Strudel von Emotionen. Er offenbart die erdrückende Last eines unbewältigten Trauer- und Kummervorrats in der Gesellschaft. TV- Bilder von Tod und Trauer werden zum Katalysator dieser vagabundierenden Gefühle, durch den jeder seinen persönlichen Kummer ausleben kann. So gesehen muss man dem Fernsehen allem kulturkritischen Lamento zum Trotz zugute halten, dass es dem Zuschauer ermöglicht, sich auf die mit Tod und Trauer verbundenen Empfindungen einzulassen. Man kann sogar sagen: Indem die Medien eine allgemeine Gefühligkeit durch halbwegs echt wirkende Emotionen aufwerten, können sie zu einer neuen Offenheit im Umgang mit Todesangst und Trauer beitragen.
Doch der Nutzen solcher "Trauerarbeit" ist keineswegs gesichert. In der beschleunigten Bilderwelt des Fernsehens vermitteln sich Tod und Trauer den Zuschauern nämlich nur auf eigentümliche Weise. Es ist schon eine Frage, wie groß die wirkliche Betroffenheit des Zuschauers dabei ist. Das Bild eines Toten aus dem Irakkrieg erzeugt bei den Zuschauern zwar durchaus Betroffenheit. Es betrifft sie vielleicht, es berührt sie wohl auch, aber: Es trifft sie nicht wirklich. Denn die Kriegsgebiete liegen Tausende Kilometer weit weg, der gezeigte Tod ist unzweideutig der Tod von anderen. So fördert das Fernsehen eine besondere Ambivalenz. Diese spaltet die Emotion der Zuschauer: hier die Flucht vor der eigenen Trauer, dort die Faszination durch den Tod von anderen.
Echte Trauer hat mit Erinnerung zu tun - da liegen die Grenzen des Fernsehens
Je unscheinbarer Tod und Trauer im Alltag werden, desto faszinierender erscheint die Konfrontation mit dem Tod und der Trauer anderer, die man im TV aus sicherer Distanz verfolgen kann. Es ist eine Distanz, die Folgen hat. In der wirklichen Trauer erleben wir den Tod als Teil unserer Innenwelt, also ganz real und deshalb oft ganz schmerzhaft. Für den Fernsehzuschauer hingegen tritt der Tod nur in der Außenwelt auf. Er kann frei wählen, wie sehr er sich von ihm anrühren lassen will. Und deshalb gilt: Das Fernsehen bringt uns mit seinen Trauerbildern den eigenen Tod und den Tod der anderen nicht wirklich näher. Eine echte Trauer kann das nicht sein.
Trauer ist nicht nur Einsicht in die Verwundbarkeit des Lebens. Sie hat auch viel mit Erinnerung und Gedächtnis zu tun. Für viele Genres der TV-Serienwelt so zum Beispiel die Krimis im traditionellen Stile von "SOKO 5113" (ZDF) gilt jedoch: Kaum jemand hält inne, wenn der Tod gekommen ist. Die Handlung geht nach dem TV-Tod einer Serienfigur nahtlos ohne Trauerzeit weiter. Es scheint überflüssig, das Leben der Toten zu erinnern und sie zu betrauern.
Der TV-Serientod ist eben zumeist ein Tod, dem kein Gedächtnis folgt.