Und warum ich trotzdem nie so richtig warm mit ihm werde
30.11.2010

Meine Mutter spricht nie von Gott. Meine Oma manchmal, in letzter Zeit. Ich spreche oft von ihm. Mein persönlicher Gott heißt Robbie Williams und hängt auf einem Poster in meinem Badezimmer.

Das ist natürlich ein Scherz ­ selbstverständlich glaube ich keineswegs, dass Gott ein betrunkener Popsänger ist. Und selbst wenn, wäre er ganz bestimmt kein Brite ­ nicht bei dem Wetter auf der Insel. Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Aber ich wüsste es gern. Wer oder was ist Gott? Robbie Williams jedenfalls ist es nicht.

Ich schrieb einmal, dass ich zutiefst atheistisch erzogen wurde. Nach einer Lesung wies mich jemand darauf hin, dass das theologisch nicht möglich sei. Man könne nicht atheistisch erzogen werden. Ich lächelte ihn an und sagte: "Da täuschen Sie sich. Wenn man, wie ich, unter lauter Pastoren und Gläubigen groß wird, geht das sehr wohl." Ich glaube, meine Antwort hat ihn etwas verwirrt.

Dabei ist nicht mal etwas Kokettes daran. Viele Bekannte und Freunde meiner Mutter waren Pastoren, junge Christen, Spätgetaufte. Das brachte das politische Umfeld in der DDR so mit sich. Der Vater einer Freundin pflegte entsprechende kindliche Fragen stets mit einem knappen Fingerzeig gen Himmel zu beantworten: "Und, siehst du wen? Na, also!"

Ein defektes Fahrrad und ein ölverschmierter Pfarrer, der sein Bestes gab

Meine Mutter ging da mit mir weit weniger pragmatisch ins Geschäft. Sie versuchte es auf die kulturhistorische Art. Sie erzählte mir, dass Jesus ein Zimmermann war, der Gutes wollte, und dass Weihnachten eine schöne Tradition wäre, an der die Menschen hingen. Gott ließ sie geschickt aus und den christlichen Hintergrund von Ostern sicherheitshalber ganz weg. Sie wusste, dass ich empfindliche Nerven hatte. Über unseren Pfarrer sagte sie, dass er allen Menschen in Not hilft. "Keiner geht ungetröstet von ihm." Das probierte ich aus, als eines Tages mein Fahrrad schlappmachte. Wohl weil der Weg zur Kirche kürzer als der nach Hause war, entschied ich mich, den Herrn Pastor um Hilfe zu bitten. Ich brachte ihm mein kaputtes Vehikel, begründete die ungewöhnliche Werkstattwahl mit dem Argument meiner Mutter und bat ihn um sofortige Reparatur. Ich wurde nicht enttäuscht. Der Pfarrer gab sein Bestes. Aber die weltlichen Dinge waren seine Sache nicht. Irgendwann kapitulierte er ölverschmiert und fuhr mich samt Rad im Auto heim. Immerhin, er hatte versucht, mir zu helfen. Und mich getröstet. Das stimmte also so weit. Wenn man will, war das meine erste Begegnung mit Gott. Ich war sechs Jahre alt.

Vielleicht hätte dieses positive Erlebnis nachhaltiger meinen Glaubensweg beeinflussen können, wäre meine Großmutter mit mir nicht immer nach Polen gefahren. Weil sie leider so gar kein pädagogisches Händchen hatte, schleppte sie mich, seit ich laufen konnte, in jede zu besichtigende Kirche, die sie fand. Ich war starr vor Angst. Die blutrünstigen Bilder und der malträtierte Mann am Kreuz mit seinem schmerzgeplagten Gesicht raubten mir jeden Atem. Damit wollte ich nichts zu tun haben.

Als ich älter wurde, lernte ich, was das alles bedeutete, und begann zu abstrahieren. Aber es war zu spät. Ich war Mitte zwanzig, als ich das erste Mal allein eine leere Kirche betreten konnte. Noch heute muss ich immer für einen Augenblick die Luft anhalten. Nur wenn viele Menschen im Raum sind, ist es anders. Weihnachten zum Beispiel.

Weihnachten ging und gehe ich immer gern in die Kirche. Nicht wegen des Krippenspiels. Das hat mich mit seinen schlechten Darstellern schon als Kind gelangweilt. Nein, wegen der Lieder. Eine Tradition, die auf meine zwar nicht sehr musikalische, aber umso sangesfreudigere Mutter zurückgeht. Ihre klare Stimme kann nur schwerlich darüber hinwegtäuschen, dass sie sich keine Melodie merkt. So etwas würde kein Chorleiter dulden. Aber beim Adventssingen fällt sie damit kaum auf. Fehlende Tonfolgen gleicht sie durch Inbrunst aus. Wie die anderen in der Gemeinde. O du fröhliche. So saß ich einmal pro Jahr in der Kirche und betete ein Vaterunser, stolz darauf, dass ich es konnte. Ich hab es bei der Christenlehre gelernt, wohin mich meine Freundin oft mitnahm. Das gefiel mir. Es war nicht so offiziell wie beim Pioniernachmittag und außerdem gab es immer Westsüßigkeiten. Warm geworden mit Gott bin ich aber auch da nicht. Es ist mir immer eine Skepsis geblieben.

Rio Reiser hat gesungen: "Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten." Rio Reiser ist auch nicht Gott, aber darin hat er Recht. Am Ende der Dunkelheit steht das Licht. Jedenfalls war es in meinem Leben immer so. Daran glaube ich ganz fest, im besten religiösen Sinn. Doch ich führe diesen Gedanken nicht konsequent zu Ende. Nie. Denn mein Alles-wird-gut-und-hat-seinen-Sinn kann ich, ohne Konflikte, nur auf mein eigenes privilegiertes Leben beziehen. Folteropfern, Hungernden, Überlebenden von Naturkatastrophen und Genoziden würde ich ihn nicht anbieten. Es käme mir zynisch vor, Menschen, die alles und jeden verloren haben, den sie lieben, zu sagen: Alles wird gut, alles hat seinen Sinn! Bis dahin reicht mein Glauben nicht. Kann er nicht. Ich glaube nicht, dass es immer Hoffnung gibt. Oft. Meistens. Aber nicht immer und nicht für jeden. Darin bin ich gottlos. Ich wünschte, es wäre anders. Aber es ist, wie es ist.

Ein Bekannter sagte mir mal, als ich ihn bat, mir zu erklären, wie er an Gott glauben könne, wo er doch Darwin und Einstein studiert habe, dass es darum nicht ginge. Es sei eben gerade keine Frage des Wissens, sondern eine des Glaubens. Um diese Gewissheit hab ich ihn beneidet. Ich weiß, dass Gott eine Antwort ist. Aber er ist nicht meine. Trotzdem erwische ich mich selbst dabei, wie ich christlich denke, fühle und handle. Ich bin Mitteleuropäerin, wie sollte es sonst sein? Das Christentum ist nicht meine Heimat, aber mein kultureller Hintergrund. In meinen Geschichten nehme ich oft Bezug darauf. Bewusst und unbewusst. Dazu kommt, dass ich im Grunde keine echte Ungläubige bin. Wie alle Atheisten webe ich mir ein dünnes Netz aus Aberglauben, Esoterik und Weisheiten, das mich in den entscheidenden Momenten auffangen soll. Ich glaube an ein Gemisch aus Schicksal und Fügungen, an Bestimmung, Aufgaben und Schutz. Und wenn ich sehr gut gelaunt bin, glaube ich sogar an einen großen Plan. Dann bin ich nur um Haaresbreite von Gott entfernt. Das ist mir klar. Ich glaube nicht an nichts, ich kann es nur nicht ausdrücken. Oder benennen. Oder fassen. Weder verbal noch inhaltlich. Und ich weiß nie, ob es nicht nur meinen offenen Fragen entspringt. Ein sprichwörtliches Hilfskonstrukt.

Ein Sturm über den britischen Inseln und totenbleiche Stewardessen

Als ich mit 14 auf Konfirmation und Taufe verzichtete, was eine Alternative zur Jugendweihe hätte sein können, tat ich es nicht wegen der traumatischen Polenreisen und nicht aus Zweifeln. Ich tat es aus Respekt. Ich belog lieber Erich Honecker als Gott. Sicher ist sicher. Man weiß ja nie. Das ist die Wahrheit. Man weiß ja nie. Ich habe keine Sicherheit. Nicht für Gott und auch nicht gegen ihn. Nur ein einziges Mal habe ich gebetet. Ich saß in einem Flugzeug und war auf dem Heimweg von Santiago de Chile. Dort sind so genannte Mandas üblich. Die Leute erbitten etwas von Gott oder Maria und versprechen bei Erfüllung irgendeine irdische Gegenleistung. Die Tante meiner Freunde trug zum Beispiel für die überraschende Heilung ihres schwer kranken Ehemannes ein ganzes Jahr lang ausschließlich hellblaue Kleidung. Ein komischer Tausch ­ aber er hat funktioniert. Ich fand das amüsant, weil es so geschäftlich daherkommt. Gibst du mir, geb ich dir. Als wäre Gott eine Art Vertragspartner.

Kurz vor den britischen Inseln gerieten wir am Morgen in ein so starkes Unwetter, dass selbst die Stewardessen hektisch wurden, Passagiere anbrüllten und sich dann totenbleich anschnallten. Ich saß nervös auf meinem ruckelnden Platz am Fenster und dachte: Okay, das war's jetzt oder das war es nicht. Du kannst nichts mehr tun. Außer zu beten. Also hab ich gebetet. Genau genommen habe ich eine Manda gemacht. An Maria. Eine Mutter um Beistand zu bitten, schien mir ganz passend. Immerhin ging es um Leben und Tod. Mit gefalteten Händen und bebendem Herzen versprach ich, jeden Monat für sie eine Kerze anzuzünden, wenn sie mich hier heil rausbrächte. Um 6.30 Uhr landeten wir durchgeschwitzt, aber sicher in London-Heathrow. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mein Versprechen nicht gehalten habe. Nicht richtig jedenfalls. Ich habe Hunderte Kerzen angezündet, aber nur zwei Mal habe ich dabei an Maria gedacht. Na ja, ich kenn sie eben nicht so gut...

Aber vielleicht war das einer der Gründe, warum ich Ende Dezember 2003 etwas getan habe, was ich sonst nie tue und ehrlich gesagt lieber auch niemandem erzählt habe: Ich bin in eine Kirche gegangen und habe mich bedankt. Für das vergangene Jahr. Für all das Gute und die glücklichen Begegnungen, die mir geschenkt wurden. Ich habe keine Erklärung dafür, aber es war mir ein Bedürfnis. Zweifelsfrei ist eben nichts. Auch nicht die Ungläubigkeit. Sicher ist sicher.

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