Der Religionslehrer fragt in seiner Grundschulklasse: "Wie lange gibt es denn schon die Kirche?" Ein Junge sagt: "Fast zweitausend Jahre." Der Lehrer blickt fragend in die Runde: "Ist jemand anderer Ansicht?" Da meldet sich der Klassenprimus: "Zweitausend Jahre ist richtig, aber das gilt nur für die Katholiken. Die evangelische Kirche gibt es erst seit Martin Luther!"
Es kommt darauf an, was man unter katholisch versteht.
Hat der Primus Recht? Ist die evangelische Kirche wirklich jünger als die katholische, gibt es sie erst seit knapp 500 Jahren? Es kommt darauf an, was man unter katholisch versteht. Die deutsche Umgangssprache bezeichnet mit dem Adjektiv katholisch die römisch-katholische Kirche, die den Papst in Rom als ihr Oberhaupt anerkennt. Aber diese Kirche ist genau genommen sogar noch einige Jahrzehnte jünger als die evangelische Kirche. Sie formierte sich erst nach Martin Luthers Tod während des Konzils von Trient (1545-1563). Mit diesem Konzil reagierte der Papst auf die Ereignisse der Reformation und richtete seine Kirche neu aus.
Eduard Kopp
Luther und die Seinen bezeichneten zu ihrer Zeit die Anhänger der Papstkirche als Altgläubige, als Römer oder, in unfreundlicher Manier, als Papisten. Katholiken hätten sie sie nicht genannt, denn die Reformatoren waren davon überzeugt, in strikter Kontinuität zur Alten Kirche zu stehen. Luther wollte keine neue Konfession gründen, sondern die bestehende heilige katholische Kirche reformieren und zu ihren Ursprüngen zurückführen. Er jedenfalls hätte auf die Frage: "Bist du katholisch?", geantwortet: "Natürlich, was denn sonst?"
Katholisch ist ein Attribut der Zusammengehörigkeit über alle Konfessionsgrenzen hinweg.
"Katholisch" in seinem ursprünglichen Sinne meint nämlich gerade nicht eine bestimmte christliche Konfession, sondern eher die Summe aller Kirchen und Konfessionen. Das Wort kommt vom griechischen Wort "katholikos" und wird im Deutschen am besten mit "allgemein" oder "allumfassend" wiedergegeben. In diesem Sinne kommt es auch im dritten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses vor, einem Text, der Ende des 2. Jahrhunderts entstand: "Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche." In diesem allgemeinen, universalen Sinne verstanden, ist die katholische Kirche sehr alt. Zu ihr gehören im Prinzip alle Menschen, Gemeinschaften und Gemeinden, die seit Jesu Kreuzigung seine Auferstehung und seine Botschaft verkündigten. Katholisch ist ein Attribut der Zusammengehörigkeit - über alle Konfessionsgrenzen hinweg.
In den zweisprachigen Bekenntnisschrif- ten der evangelisch-lutherischen Kirche ist gleich vorn das Apostolische Glaubensbekenntnis abgedruckt. Im lateinischen Text findet sich die Formulierung "Credo in Spiritum Sanctum. Sanctam Ecclesiam Catholicam." In der deutschen Übersetzung heißt es: "Ich glaube an den Heiligen Geist. Eine heilige christliche Kirche." Damals war klar, dass in diesem Falle "eine" nicht etwa "irgendeine" Kirche bedeutet, sondern die eine allgemeine, allumfassende, universale, katholische Kirche, die über alle nationalen oder konfessionellen Kirchenstrukturen hinausgeht.
Doch wie kam es zur umgangssprachlichen Verengung von katholisch auf die Kirche unter dem Papst? Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges bildete sich auf der Seite der romtreuen Fürsten die "Katholische Liga" als Reaktion auf die "Protestantische Union". Mit diesem geschickten Schachzug hatten die Parteigänger des Papstes das Attribut katholisch okkupiert. Seitdem hat "katholisch" in Deutschland eine römische Schlagseite.
In England ist das ganz anders. Zwar sagte sich dort die Kirche im 16. Jahrhundert von Rom los, aber deswegen verzichtet sie bis heute keinesfalls auf das Attribut katholisch. Selbstverständlich bekennen die Anglikaner: "I believe (...) in the holy catholic church." Ihr katholisches - nicht römisch-katholisches - Selbstbewusstein zeigt sich auch darin, dass in vielen englischen Kirchen in einer Liste alle Geistlichen seit Beginn der Christianisierung verzeichnet sind.
Die evangelische und die römisch-katholische Kirche sind gleich alt
Dem deutschen Sprachgebrauch zum Trotz sind die evangelische und die römisch-katholische Kirche gleich alt. Sie verkörpern beide die universale Kirche Jesu Christi, zu der alle christlichen Konfessionen gehören, ungeachtet zahlreicher Unterschiede in Lehre und Liturgie. Vom evangelischen Theologen Fulbert Steffensky stammt der Satz: "Keine der Einzelkirchen ist alles; keine ist die ,wahre' Kirche, und darum ist auch keine der Kirchen genug für uns." Wer diese Einsicht teilt, dem kommt es wahrscheinlich gar nicht mehr darauf an, welche Konfession nun jünger oder älter ist.