Das Kunstwerk - Die Wally und der Egon
Das Kunstwerk - Die Wally und der Egon
Leopold Museum, Wien, Inv. 455
Die Wally und der Egon
Zeigt Egon Schiele hier sich selbst und seine Lebensgefährtin in vertauschten Rollen? Jedenfalls geht’s um aggressiven Sex
Lukas Meyer-BlankenburgPrivat
15.07.2020

Priester A fragt Priester B: "Wird ein neues Konzil den Pflichtzölibat aufheben?" Antwortet Priester B: "Das erleben wir nicht mehr, höchstens unsere Kinder." So geht, sinngemäß und etwas verkürzt, der Lieblingswitz von Papst Franziskus zum Zölibat. Seine Pointe führt ziel­strebig zu den Gegensatzpaaren, die Thema dieses Bildes sind: ­gesellschaftliche Konvention und menschliches Begehren, Pflicht und Pflichtverletzung, reine Heiligkeit und ­"schmutzige" Sexualität. Wie es aussieht, wenn sich Hochwürden von seinen Trieben auf die Knie werfen lässt, hat Egon Schiele mit "Kardinal und Nonne" 1912 festgehalten.

Lukas Meyer-BlankenburgPrivat

Lukas Meyer-Blankenburg

Lukas Meyer-Blankenburg ist freier Journalist mit Hang zur Kunst

Das Bild ist eine reine Provokation, ein Tabubruch allererster Güte. Der Wiener Künstler stand ohnehin in Verruf, weil er nackte Mädchen malte und anhand seiner Akt­modelle oder gleich an sich selbst von der Selbstbefriedigung bis zum Geschlechtsverkehr die Funktionen der Genitalien studierte. Die Macht der Sexualität war sein Ding. Weniger auf die sanfte Tour, sondern eher unangenehm, gewalttätig, aggressiv – so, wie es auch auf diesem Bild zu sehen ist. Der kräftige Kardinalsnacken darf getrost als Phallussymbol ­interpretiert werden, die muskulösen Waden des kirchlichen Hochwürden stehen in Kontrast zur strengen Konvention seines Amtes.

Der Künstler hat dem Bild den schelmischen Zusatztitel "Liebkosung" verpasst. Dabei ist so lieb an diesem unerlaubten Techtelmechtel gar nichts. Jedenfalls scheint die Nonne sich eher zu fürchten – vor dem Kardinal, dessen rotes, ungezügeltes Begehren sie in Form seines Gewandes umgibt. Oder fürchtet sie sich eher vor sich selbst, vor dem sexuellen Verlangen, das sie spürt, obwohl es nicht sein darf?

Der Vater verlustierte sich und starb an Syphilis...

Erstaunlicherweise werden Egon Schieles eigene Er­fahrungen mit gesellschaftlicher Doppelmoral erst seit ­einigen Jahren als möglicher Hintergrund verstanden, warum sich der Maler in vielen seiner Werke fast schon ex­zessiv mit dem Thema Konvention und Sexualität beschäftigte. Während Schiele, geboren 1890, in der österreichischen Provinz in einem Frauenhaushalt mit Mutter, Schwestern und Dienstmädchen aufwuchs, kam der Vater zwar seinen gesellschaftlich hoch angesehenen Pflichten als Bahnhofsvorsteher nach, verlustierte sich aber auch in Wien regelmäßig mit Prostituierten. Er starb an Syphilis, da war Egon Schiele mitten in der Pubertät. Und für den Rest seines kurzen Lebens, das die Spanische Grippe 1918 beendete, blieben Tod und Sex für Egon Schiele irgendwie miteinander verknüpft.

Ein Blick auf die mannigfaltigen Selbstporträts des ­Künstlers genügt, um festzustellen, dass die Nonne dem Maler selbst ziemlich ähnlich sieht. Der Kardinal wiederum ist oft als männliche Wally Neuzil gedeutet worden, Egon Schieles Lebensgefährtin; er lebte natürlich in "wilder Ehe"! Wer sich von den eigenen Konventionen frei macht und Schlagworte wie "Skandal" und "Pornografie" hinter sich lässt, mit denen Egon Schieles Kunst zeit seines Lebens – und für viele sogar bis heute – belegt ist, erkennt vor allem einen skandalös guten Maler.

... der Sohn interessierte sich für die Abgründe der Sexualität

Sein ernsthaftes Interesse an den Abgründen der ­Sexualität ist zudem oft wesentlich spannender als die reich verzierten, sinnlichen Darstellungen von Egon Schieles Wiener Malerkollegen Gustav Klimt. Letzterer bekommt aber ­immer noch mehr Aufmerksamkeit von Museums­besuchern, ­vermutlich weil seine Bilder auf Kaffeetassen und Jutebeuteln schöner aussehen.
Richtiggehend aufschlussreich ist es, die Bilder beider Künstler nebeneinanderzustellen. Dann erfährt der Gegensatz von Konvention und Begehren, an dem sich Schiele abarbeitet, noch einmal eine Art dialektischer Steigerung. Hausaufgabe für Sie: Googeln Sie mal Gustav Klimts "Der Kuss", fünf Jahre früher entstanden als Egon Schieles Bild und in gewisser Weise die einvernehmliche Variante von "Kardinal und Nonne" – eine Liebesszene frei von Zwang und Furcht.

Der Witz des Papstes jedenfalls wäre in Klimts Welt gar keiner mehr. Das wäre auch nicht mal so schlimm. Der ­Zölibatswitz ist nämlich ziemlich traurig.

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