- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Ein bisschen sieht es aus wie die Luftaufnahme einer landwirtschaftlichen Nutzfläche: viereckige Parzellen in Brauntönen. In Wirklichkeit ist das eine Darstellung der Kirche Sacré-Cœur in Paris. Der kalkweiße, über der Stadt thronende Bau ist – neben der vor einem Jahr ausgebrannten Kirche Notre-Dame – eine Art Nationalheiligtum der Franzosen. Jeanne d’Arc und Ludwig IX., die quasi als Säulenheilige dem Bau sein symbolisches Gewicht verleihen, werden alljährlich von unzähligen Touristen flankiert, fotografiert oder – zugunsten des herrlichen Panoramablicks vom Kirchplatz aus – ignoriert.
Lukas Meyer-Blankenburg
Was der Künstler Georges Braque 1910 in "kubistischer Bizarrie" malte (so taufte ein zeitgenössischer Kritiker einst seinen Stil), dient weniger dem nationalen Gedenken. Braque war auf der Suche nach dem Wesen der Dinge. In diesem Sinne führt seine Sacré-Cœur, um im Bild zu bleiben, ins Herz der Kunst. Denn was ist das Wesen künstlerischer Darstellung, wenn es nicht (nur) darum gehen soll, die Wirklichkeit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen wiederzugeben?
Der inneren Wahrheit auf die Schliche kommen
Spätestens als die ersten Fotoapparate auftauchten, was der 1882 geborene Braque natürlich mitbekam, mussten sich Künstlerinnen und Künstler mit dieser Frage auseinandersetzen. Und während heute jedes Smartphone schärfere Bilder schießt, als das menschliche Auge überhaupt wahrnehmen kann, haben sich Kunstbeflissene heute wie selbstverständlich daran gewöhnt, die meisten Kunstwerke mit einer gehörigen Abstraktionstoleranz anzugehen. Einfach, weil Kunst etwas darstellen soll, was über die Möglichkeiten eines naturalistischen Fotos hinausgeht.
Vor 120 Jahren war diese Ansicht keinesfalls mehrheitsfähig. Doch Braque wagte die künstlerische Flucht nach vorn, weg vom Figürlichen und Realistischen, hin zu abstrakten kubischen Formen. Mit einem gewissen Pablo Picasso gehört der französische Maler zu den Begründern des Kubismus: der Idee, dass natürlichen Formen der Kubus als Urform zugrunde liegt und die Malerei die Realität dementsprechend in ihr kubisches Wesen zerlegt, um, tja, vielleicht ihrer inneren Wahrheit auf die Schliche zu kommen?
Ist der Betrachter dieser Sacré-Cœur dem Wesen des Bauwerks also tatsächlich näher als beim Blick auf eine schnöde Fotografie? Jedenfalls gehört das Suchen hier gleich zum Sehen dazu. Und es braucht eine kleine Portion Vorstellungskraft, um in der Bildmitte die Treppe hinauf zum Hügel, auf dem die Kirche steht, sowie die Kuppeln des Baus zu erkennen.
Willkommen in der Realität des Kubischen
Heller als die übrigen sind die Flächen der Kirche und der sie unmittelbar umgebenden Felder auch. Und doch ist Sacré-Cœur, das "allerheiligste Herz", eingebettet in die Stadt, kein heiliges Bauwerk, sondern der Teil eines organischen Ganzen – das erschließt sich beinahe automatisch. Da ist der Künstler weit weg vom thronenden Nationalheiligtum und nah bei Petrus’ Felsen, der gleichzeitig Fundament der Gesellschaft sein soll.
Aber so viel Deutung hätte den Kubisten vermutlich Bauchschmerzen bereitet. Vielleicht ist das Bild deshalb auch einfach nur, was es dem Titel nach sein soll: "Le Sacré-Cœur vu de l’Atelier de l’Artiste" – "Sacré-Cœur aus dem Atelierfenster des Künstlers betrachtet". Voilà – willkommen in der Realität des Kubischen.