Haben die Kirchen in der Corona-Krise versagt? Das wirft die frühere Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) den Kirchen pauschal vor - in einem Interview, das die Tageszeitung "Die Welt" gestern veröffentlichte. Die Kirche habe Hunderttausende Menschen allein gelassen, sagte Lieberknecht: Kranke, Einsame, Alte, Sterbende.
Stimmt das? Richtig ist: Synagogen, Kirchenräume und Moscheen waren von Mitte März bis Mitte Mai geschlossen. Denn alle gemäßigten und liberalen Religionsgemeinschaften befolgten die Richtlinien des Staates. Juden und Christen verzichteten zu Pessach und Ostern auf ihre Gottesdienste. Muslime feierten das Fastenbrechen im Monat Ramadan im engsten Familienkreis. Gute Pastorinnen und Pastoren blieben auch in der Krise ihren Gemeinden verbunden - übers Internet. Gut, dass sie es taten. Aber klar: Schlechten Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die vorher nichts zu sagen hatten, fiel auch nichts ein, als ihre Kommunikation auf digitale Medien beschränkt wurde.
Burkhard Weitz
Gestern berichtete ebenfalls die jüdische Zeitung Tachles aus der Schweiz: Bis heute halten sich einzelne charedische (ultraorthodoxe jüdische Gemeinden) nicht an die Corona-Verbote in ihren Ländern. In Tachles ist zu lesen: "Im ultraorthodoxen Jerusalemer Stadtviertel Mea Schearim versammelten sich an Lag Baomer (ein Gedenkfest am 12. Mai) rund 2000 charedische Juden. Am selben Tag dringen am Har Meron mehrere Hundert Ultraorthodoxe in die Grabstätte von Rabbi Schimon Bar Jochai ein (seiner wird an Lag Baomer gedacht). Ende April kommen Hunderte religiöser Juden im ultraorthodoxen Stadtteil Williamsburg von New York zur Beerdigung von Rabbi Chaim Mertz." Die verheerende Folge: 70 Prozent der Covid-19-Erkrankten in Israel sind Charedim. In New York ist es ähnlich: Borough Park, Williamsburg und Crown Heights hätten die höchsten Infektionsraten in der Stadt, so Tachles.
Wie genau hätten sich die Kirchen Frau Lieberknecht zufolge richtig verhalten? Sterbebegleitung etwa durch Klinikseelsorgerinnen und -seelsorger gab es - auch wenn nicht jeder Pfarrer und jede Pfarrerin optimal informiert gewesen sein mag, was ihm oder ihr unter den gegebenen Regelungen gestattet war und was nicht. Dass die Kirche zu allem nur geschwiegen habe - wie Frau Lieberknecht behauptet - trifft auch nicht zu.
Glaube soll auch ohne Berührung möglich sein
Richtig ist dennoch: Kirchliche Arbeit hat oft mit Berührung zu tun. Wenn eine Pfarrerin Konfirmanden oder ein Hochzeitspaar segnet, legt sie ihre Hände auf deren Köpfe. Wenn ein Pfarrer einen Toten aussegnet, berührt er den Sarg. Der Händedruck beim Verabschieden, das Schulterklopfen beim Trost, die gehaltene Hand am Krankenbett, das alles mag elementar sein. Vieles davon ist in den vergangenen Monaten nicht möglich gewesen.
Die fantastisch anmutende biblische Ostergeschichte vom ungläubigen Thomas hatte schon immer etwas sehr Intimes. Der Jünger Thomas will nur an den auferstandenen Christus glauben, wenn er ihn physisch erleben darf. "Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich's nicht glauben", sagt er laut Johannes 20,25. Tatsächlich steht Thomas irgendwann dem Auferstandenen gegenüber, eine anrührende Szene - auch wenn Jesus schon kurz darauf sagt: "Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!" Glaube soll wohl auch ohne Berührung möglich sein.
Schon seit Jahren experimentieren Pfarrerinnen und Pfarrer mit virtuellen Gottesdiensten. Ein Glück, dass sie so früh damit begonnen haben und nun, während der Corona-Krise, wenigstens auf digitalem Weg Kontakt mit ihren Gemeinden halten konnten.
Zunächst ging es vielen wie Pfarrer Michael Führer aus Dresden: Richtige Gemeinde ist analog, fanden sie. Sie haben lange mit der digitalen Feier gefremdelt. Doch hat es mehrere Wochen lang ausschließlich solche Gottesdienste gegeben. Und auf einmal wird deutlich, wie wichtig auch diese Arbeit ist - und wie anders sie organisiert werden muss.
Leider kann ich das Interview
Leider kann ich das Interview nicht lesen. Aber schon die Aussage, die in diesem Artikel rüberkommt, ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen in der Kirche, die sich trotz notwendiger Einschränkungen um ihre Gemeindeglieder gekümmert haben! Sollte sich Frau Lieberknecht auch zu den vielen Angeboten geäußert haben, die trotz Einschränkungen gelaufen sind, möge man meinen Beitrag getrost ignorieren. Wird jedoch tatsächlich pauschal behauptet, "die Kirche" hätte Menschen im Stich gelassen, so sei Frau Lieberknecht gesagt: Ich kenne viele Diakone (auch diese leisten Seelsorge in der Kirche!) und Pastoren, auch einen Kirchenmusiker, die ihre Gemeinden auch unter "Corona-Bedingungen" begleitet haben. Andachten in Innenhöfen von Seniorenheimen (mit mindestens 6 m Abstand und Lautsprecheranlage), regelmäßige Post für die aus dem Seniorenkreis, Anrufe, 500 Postkartengrüße zu Ostern, Plakate mit Bibelversen - alles, damit der Kontakt zu Gemeindemitgliedern nicht abreißt! Und da stellt sich eine Politikerin hin, die von der täglichen Arbeit vieler in der Kirche offenkundig nur wenig Ahnung hat, und gibt so etwas von sich? Das ärgert mich! Sie soll erstmal ein paar Wochen bei kirchlichen Mitarbeiter*innen mitlaufen und sehen, was getan wird, bevor sie sich derart äußert. Natürlich hat jede*r das Recht auf freie Meinungsäußerung - aber ein bisschen Ahnung von dem, worüber man sich äußert, sollte man schon haben.
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