Am Tag, als mein Vater starb, vermeldete die Johns-Hopkins-Universität für Deutschland 43 211 bestätigte Corona-Infektionen. Auf gewisse Weise hatten wir noch Glück gehabt. Mein Vater starb nicht am Virus, sondern an den Folgen seiner langjährigen Krebserkrankung. Ich konnte deshalb noch Abschied nehmen. Dass Trauer in Zeiten von Corona anders verläuft, sollten wir trotzdem schnell lernen.
Miriam Hollstein
Tage vorher hatte das Pflegeheim uns informiert, dass sich der Zustand meines Vaters verschlechtert hatte. Besucher waren im Heim zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zugelassen. Wir bekamen eine Ausnahmegenehmigung, weil mein Vater bereits nur noch palliativ behandelt wurde. Der Zug, mit dem ich aus Berlin in meine Heimatstadt reiste, war menschenleer.
Gleich nach meiner Ankunft fuhr ich abends mit meinem Bruder ins Heim. Mit Mundschutz gingen wir in das Zimmer meines Vaters. Er wirkte schwach, aber überraschend stabil. Mit Plastikhandschuhen streichelte ich seinen Arm und versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen. Zum Abschied sagte ich: "Papa, ich küsse dich lieber nicht, wegen des Virus." Am Morgen kam der Anruf, dass er nachts um vier Uhr gestorben war.
Ich wünschte, ich hätte ihn geküsst.
Weil ich in der Wohnung meiner Mutter in einem Altenheim nicht übernachten konnte, suchte ich mir in meiner Heimatstadt ein Hotel. Es war eines der wenigen Häuser, welches noch geöffnet hatte. Außer mir gab es in dem 80-Zimmer-Hotel nur zwei weitere Gäste.
Miteinander weinen mit Sicherheitsabstand
Am schlimmsten war, dass ich meine Mutter nicht in den Arm nehmen konnte. Ich schwankte zwischen dem Bedürfnis, sie zu trösten, und der Sorge, mit zu viel körperlicher Nähe das Virus übertragen zu können. So weinten wir miteinander im Zwei-Meter-Sicherheitsabstand.
Immerhin durfte ich sie täglich in ihrem Wohnheim besuchen. Auch das war eine Ausnahme. Für Angehörige blieb die elektronische Eingangstür schon seit Tagen verschlossen. Große Warnschilder untersagten den Zutritt.
Wenn ich mit Mundschutz und Handschuhen zum Eingang kam, sah ich manchmal Bewohnerinnen hinter den Gardinen ihrer Fenster stehen. Die eine oder andere guckte misstrauisch. Ich konnte sie verstehen. Sie selbst waren angehalten worden, nicht einmal mehr ihre Wohnung zu verlassen. Und nun spazierte ich quasi als lebendes Infektionsrisiko vor ihren Augen ins Heim. Ich mied den Lift und jede Begegnung, stieg durchs Treppenhaus in die vierte Etage zu meiner Mutter. Aber wie hätte die 84-Jährige all das, was jetzt anstand, allein bewältigen sollen?
Keine Infektionsgefahr bei Einäscherung
Die freundliche, junge Bestatterin, bei der mein Bruder und ich einen Tag später mit Sicherheitsabstand saßen, erzählte uns, dass sie vor kurzem ihren ersten Covid-19-Todesfall hatte. Eine junge Frau. Sie war nicht an Corona, sondern an einem Tumor gestorben. Das Virus hatte sich zum Schluss wie ein tödlicher Schmarotzer an den Krebs gehängt und das Sterben beschleunigt. Die Familie der Frau hatte sie in ihrer Heimat im europäischen Ausland beerdigen wollen. Doch das war von der dortigen Regierung aus Angst vor dem Virus verboten worden.
Die Bestatterin philosophierte darüber, ob durch Pandemien die Feuerbestattungen zunehmen würden. Sie haben den Vorteil, dass die Urne erst Wochen später beigesetzt werden muss. Eine Erdbestattung, wie sie sich mein Vater gewünscht hatte, muss hingegen innerhalb von spätestens zehn Tagen erfolgen, je nach Bundesland. Außerdem besteht bei einer Einäscherung keine Infektionsgefahr mehr. Weil Covid-19 vielleicht auch noch von Toten übertragbar ist, dürfen diese, wenn sie daran erkrankt waren, nicht mehr aufgebahrt werden. Ein letzter Abschied am offenen Sarg ist nicht möglich.
Während des Gesprächs dachte ich einen kurzen Moment darüber nach, dass Bestatter vermutlich zu den wenigen Berufen gehört, die sich wegen Corona keine Sorgen um das Geschäft machen müssen. Der Spruch "Gestorben wird immer" gilt für Pandemien noch viel mehr.
Wer darf kommen? Wer nicht?
Wir hatten nie darüber gesprochen, wie mein Vater einmal beerdigt werden wollte. Aber klar war immer: Es würde eine große Trauerfeier werden. Als Pfarrer hatte mein Vater viele Menschen durchs Leben begleitet. An unterschiedlichen Orten und beruflichen Stationen. Mit vielen von ihnen blieb er auch dann in herzlicher Verbindung, als er schon längst im Ruhestand war. Sie alle sollten die Möglichkeit haben, sich gemeinsam mit uns von ihm zu verabschieden. Das war vor Corona.
Auch wenn die Kanzlerin Beerdigungen von den Ausgangsbeschränkungen klar ausgenommen hat, so haben doch die Bundesländer dafür ihre eigenen Regelungen ausgegeben. In Nordrhein-Westfalen etwa dürfen in einigen Kommunen 20 Personen, in anderen nur zehn an einer Beerdigung teilnehmen.
In Baden-Württemberg, meiner Heimat, waren es zu dieser Zeit maximal zehn. Das warf neue Fragen auf. Wer sollte kommen, wer verzichten? Und würde die 74-jährige Schwester meines Vaters nicht mit einer Anreise ihre Gesundheit gefährden? Oder der 14-jährige Enkel allein durch seine Anwesenheit die Gesundheit der anderen riskieren?
Kein Leichenschmaus
Die Beschränkung der Personenzahl war nicht die einzige Auflage, die es für die Beerdigung gab. Sie musste komplett im Freien stattfinden, der Sarg durfte nur draußen aufgestellt werden. Ein Kondolenzbuch war genauso wenig erlaubt wie die Tradition, per Schaufel ein wenig Erde als letzten Gruß ins Grab zu streuen. Auch einen Leichenschmaus würde es nicht geben. Dabei ist es dieses Zusammensein bei einem Kaffee im Anschluss an eine Beerdigung, das dem Schmerz oft einen Moment lang die Schwere nimmt. Wenn man den Verstorbenen in vielen liebevoll erzählten Anekdoten noch einmal lebendig werden lässt. Corona schien das Ritual, das den Abschied von einem langen erfüllten Leben erleichtern sollte, auf ein hastiges Unter-die-Erde-bringen zu reduzieren. Es fühlte sich falsch an.
Doch dann schien am Tag der Beerdigung die Sonne. Sie wärmte uns, während wir auf dem überdachten Vorplatz vor der verschlossenen Kapelle den liebevollen Erinnerungen des Pfarrers an meinen Vater zuhörten. Er war einmal sein Konfirmand gewesen. Es war der Moment, in dem mir dämmerte, dass Matthäus 18, Vers 20 vielleicht auch für Zeiten der Quarantäne und der Pandemie-Beerdigungen gedacht war: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
Viele freundliche Gesten
Wir haben viel gelernt in diesen Tagen. Wie man sich mit Worten umarmt, wenn man es körperlich nicht tun kann. Dass es manchmal ausreicht, beieinander zu sitzen, selbst wenn der Abstand dabei groß ist. Was uns auch half, waren Menschen, die sich von Corona nicht irremachen ließen. Denn wenn man trauert, erlebt man die Reaktionen der Umwelt wie durch ein Vergrößerungsglas. Gedankenlose Worte kränken mehr. Aber umgekehrt bekommen auch freundliche Gesten eine viel größere Bedeutung.
Da war der Pfleger im Heim, der uns nach dem Tod meines Vaters noch einige Stunden an seinem Bett sitzen ließ und nicht abwies. Denn die Regelung, dass Angehörige zu den Sterbenden gelassen werden müssen, gilt nicht über den Tod hinaus.
Da war der Pfarrer, der aufgrund einer Vorerkrankung selbst zur Risikogruppe für das Coronavirus gehörte, trotzdem aber bereit war, die Trauerfeier zu halten. Oder der Leiter des Heimes meiner Mutter, der die Besuche bei ihr gestattete, obwohl ein gewisses Risiko nicht auszuschließen war.
Ein zweiter Abschied im Herbst
Nur ein einziges Mal erlebten wir eine irritierende Reaktion. Als wir kurzfristig die Musik für die Trauerfeier änderten, antwortete der Chef des Beerdigungsunternehmens ungehalten, das bedeute für ihn Extraarbeit in einer Zeit, in der er selbst nach "Halt in Struktur und Verlass" suche. Es blieb eine Ausnahme.
Im Herbst wäre mein Vater 80 geworden. In der Hoffnung, dass die Pandemie dann vorbei ist, wollen wir das Datum für einen zweiten Abschied nutzen. Einen ganz großen, zu dem wir alle einladen, die meinen Vater kannten und liebten. Um zu feiern, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern das Leben. Im Kleinen wie im Großen.