ie jeden Morgen blättere ich beim Frühstück durch die Tageszeitung. Wenig Aufregendes, denke ich. Doch dann fällt mein Blick auf eine kleine Überschrift: "Beleidigungen im Familienkreis erlaubt". Ernst oder Satire? Das muss ich lesen.
Arnd Brummer
Die Story: Nach einem heftigen Ehestreit schickte die Frau ihrer Mutter ein Handyvideo, auf dem ihr Mann zu sehen ist, wie er seinen Sohn am Genick fasst und schubst, damit er schneller geht. Die Schwiegermutter erstattete daraufhin eine Strafanzeige gegen den Mann. Und sie versandte eine Whatsapp-Nachricht mit dem Video an enge Verwandte. Titel: "Protokoll der Misshandlungen".
Als der Schwiegersohn davon erfuhr, zog er seinerseits vor das Landgericht. Ziel: Die Frau solle die zahlreichen "unzutreffenden" Aussagen in dem Whatsapp-Protokoll nicht weiter behaupten und verbreiten. Die Klage wurde abgewiesen. Und seine Beschwerde beim Oberlandesgericht blieb ebenfalls erfolglos. Juristische Begründung: Die Äußerungen der Schwiegermutter seien innerhalb der Familie, also in einer "beleidigungsfreien Sphäre" gefallen. Unter engsten Verwandten müsse man sich frei aussprechen können. Was gegenüber Außenstehenden oder in der Öffentlichkeit wegen seines "ehrverletzenden Gehalts eigentlich nicht schutzwürdig" wäre, sei deshalb dort straffrei. So weit so gut.
Wo, wenn nicht in der Familie, lernen Kinder, wie man miteinander umgeht?
Je länger ich über die Sache nachdachte, desto mehr ärgerte mich die Überschrift des Artikels. Ich musste den
Kollegen immerhin konstatieren, dass sie mich zur Lektüre animiert hatten. Dass sie als "erlaubt" bezeichneten, was die Juristen lediglich als "nicht strafbar" beurteilt hatten, ärgerte mich.
Ja, in Familien wird bisweilen so derb kommuniziert, dass es einem die Schamröte ins Gesicht treiben würde, wenn Außenstehende davon erführen. Durch meinen Kopf geisterten Erinnerungen. Ich saß als Junge mit am Tisch, als mein Großonkel, ein Handwerksmeister, verbal auf seinen Sohn und Gesellen eindrosch. "Der Bub ist ein saudummes und stinkfaules A…loch! Aber fressen tut er am liebsten teuerstes Rinderfilet, das ihm seine blöde Mutti extra kauft und kocht, weil er doch so viel schafft!"
Der Gemeinte schaute still auf seinen Teller. Dann hob er den Kopf und
bellte zurück: "Eine solche Drecksau
wie du hat morgens noch so viel Schnaps im Blut, dass sie nicht mal
zwei Bretter ordentlich zusammenschrauben kann. Also halt die Klappe
und füll’ sie weiter mit teurem Cognac."
Wenig später belauschte ich, wie meine Großtante in der Küche zuerst mit ihrem Mann und dann mit ihrem Sohn diskutierte. Tenor: "Ihr könnt euch kritisieren und ihr dürft euch auch beschimpfen. Aber hört auf, einander mit so schrecklichen Worten zu beleidigen. Das gehört sich nicht! Und denkt doch auch mal an euren kleinen Neffen, der das alles mit anhören musste! Der muss ja glauben, dass wir eine Familie ohne Respekt und Anstand sind." Vater und Sohn kamen mit demselben Gesichtsausdruck aus der Küche: mit Schmollmund und abgedrehten Augen. Immerhin brummte mir der Großonkel (kein "Brummer", anderer Name!) zu: "Vergiss den Quatsch. Mir ist der Gaul durchgegangen."
Wenn Familien von der Justiz als "ehrschutzfreier Raum" bezeichnet werden, macht das sozial und psychologisch durchaus Sinn. Im Sinne von Ethik und Moral ist diese Einschätzung verfehlt. Wo, wenn nicht im familiären Gefüge, kann Nachwachsenden glaubwürdig vermittelt werden, wie man miteinander anständig umgeht? So danke ich meiner Großtante auch nach Jahrzehnten, dass sie Beleidigungen untersagte, auch wenn sie strafrechtlich nicht verfolgt werden können. "Nicht erlaubt" sind in diesem Sinne auch Whatsapps.