Zwanzigtausend Protestanten, viele in Festtagskleidung mit Kostüm und Hütchen, Anzug und Schlips hörten im November 1933 im Berliner Sportpalast der Rede von Gauobmann Reinhold Krause zu. Er forderte eine "heldische Frömmigkeit aus dem Geiste Luthers" und die "Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral". Die Halle war geflaggt mit Hakenkreuzfahnen und einem Banner mit der Aufschrift "Der Deutsche Christ liest das ‚Evangelium im Dritten Reich‘" - eine Werbung für die Zeitschrift der Deutschen Christen. Das Foto von dieser begeisterten Masse von Christen verursacht gleich am Eingang der Berliner Ausstellung "Überall Luthers Worte" ein beklemmendes Gefühl. Es geht um "Martin Luther im Nationalsozialismus", so der Untertitel der Ausstellung der Stiftung "Topographie des Terrors".
Der Reformator wurde von den Nationalsozialisten schamlos genutzt für die eigene Ideologie. Flächendeckend gelang diese Vereinnahmung. Die kleine, feine Ausstellung veranschaulicht anhand von Fotos, Postkarten und Gedenkmünzen, auch mit Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften und zahlreichen Briefen, wie allgegenwärtig der nationalsozialistische Lutherkult war. Die Schau, erarbeitet von Historikern der "Topographie" und der "Gedenkstätte Deutscher Widerstand" sowie dem Berliner Kirchenhistoriker Christoph Markschies, belegt die Annäherung von Christen und Nationalsozialisten.
Je länger die Diktatur andauerte, umso grimmiger starrte der Reformator von Gedenkmünzen und Plakaten, von Podesten und Reliefs. Ab 1935 gaben ihm die Künstler und Bildhauer ein zunehmend grobschlächtiges Konterfei mit harten Gesichtszügen, mächtigen Schultern und kampfbereiter Körperhaltung. Aus dem Wittenberger Mönch wurde der Vorkämpfer eines völkisch-geeinten Deutschlands. Mehr noch: Hitler verstand sich selbst als zweiter Luther. Er werde die Reformation "vollenden" und eine "Versöhnung der Konfessionen mit dem neuen Staat herbeiführen", kündigte er auf dem Nürnberger Reichsparteitag im September 1934 an.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits die meisten evangelischen Landeskirchen selbst zu einer "Führerkirche" gleichgeschaltet und einem Reichsbischof von Hitlers Gnaden unterworfen. Die "Deutschen Christen" bildeten in Synoden und Gemeindekirchenräten die Mehrheit und verstanden sich als "SA Jesu Christi". So schrieb es Reichsleiter Joachim Hossenfeldt in "Unser Kampf", der Schriftenreihe der "Deutschen Christen".
Die Lutherjubiläen begannen 1933 mit dem 450. Geburtstag des Reformators. In großen und kleinen Städten und Dörfern feierte man den "Luthergeist" mit "Luthertagen", "Lutherwochen" und am 10. November mit dem "Deutschen Luthertag". Die Zeitungen – gerade auch die kirchlichen - bejubelten den Reformator als "deutschen Herkules" und "urdeutschen Charakter". "Darin sind sich Luther und Hitler eins, dass sie sich beide zur Errettung ihres Volkes berufen wissen", schrieb der Erlanger Theologe Hans Preuß. Luther und seine Schriften mussten herhalten für die "Furchtlosigkeit des deutschen Mannes" und die Opferbereitschaft der Deutschen, für die Gottgegebenheit der NS-Regierung – und für die "Befreiung von allem Undeutschen".
Es gab den Luther für die Politik – und den Luther für die heimelige Stube. Die Zeitschrift "Bilder-Bote für das evangelische Haus" schmückte sich zum 400. Jubiläum der Lutherbibel 1934 mit einem Propagandafoto einer Mutter, die sich mit ihren Töchtern in die Kinderbibel vertieft. Luther für die Idylle.
Zugleich wurde Luthers übles Traktat "Von den Juden und ihren Lügen" von 1543 zigfach neu aufgelegt und diente als Begründung für die Vertreibung und Ermordung von Millionen Juden. "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen", brüstete sich der thüringische Landesbischof Martin Sasse.
In den vergangenen Jahren wurde viel über Luthers Judenhass diskutiert. Und kaum ein evangelischer Theologe spricht über die Reformation, ohne auf diese abgründige Seite hinzuweisen. Doch selten wurde so wie in dieser Ausstellung vorgeführt, wie sehr die evangelische Kirche selbst die faschistische Zurichtung des Reformators betrieb.
Im ausführlichen Ausstellungskatalog lässt sich nachlesen, dass der Historiker Heinrich von Treitschke bereits zu Luthers 400. Geburtstag 1883 die Linie vorgegeben hat: Mit Luthers Kampf gegen die "welsche" römische Kirche hatte der Aufstieg der deutschen Nation begonnen, und sie gipfelte im preußisch geprägten Kaiserreich, in dem sich Katholiken, Sozialisten und Juden dem protestantischen Führungsanspruch unterzuordnen hatten. Diesem Geschichtsbild hatten sich führende Theologen wie der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker gerne angeschlossen und aus Luthers Antijudaismus einen völkisch-rassistischen Antisemitismus abgeleitet. In den 1920er Jahren waren die zwei Bilder des nationalen Luther eng miteinander verflochten: der national-konservative Luther, dem der Reichspräsident und "Sieger von Tannenberg" Paul von Hindenburg angeblich glich, und der antisemitisch-völkische Luther, "dessen Schriften den Deutschen helfen sollten, sich vom Judentum zu befreien". So schreibt der Kieler Theologe Hartmut Lehmann im sehr aufschlussreichen Ausstellungskatalog.
Zehn Jahre später war es für evangelische Theologen nur ein kleiner Schritt, in Luthers Zwei-Reiche-Lehre die Rechtfertigung für einen totalitären Staat zu sehen und aus seinem Prinzip des Priestertums aller Getauften die Forderung herzuleiten, das deutsche Volk müsse aus sich selbst heraus souverän sein und alles "Undeutsche" ausmerzen.
Auch die Gegner der "Deutschen Christen" sind der engen Verzahnung von Religion und Politik in der Stilisierung Martin Luthers zum Nationalheld nicht ganz entkommen. Der Antisemitismusforscher und Generalsekretär der Evangelischen Akademien Klaus Holz weist darauf hin, dass auch der Historiker Gerhard Ritter, Mitglied in der "Bekennenden Kirche", die Ansicht vertrat: Nur, wer Luthers "Blutes und Geistes" sei, könne ihn "aus der Tiefe seines Wesens verstehen".
Dieses große Kapitel der Schuldgeschichte ist im diesjährigen Jubiläumsreigen bisher weitgehend unerwähnt geblieben. Deshalb hätte man sich diese Ausstellung über "Luthers Worte" größer und an einem für die evangelische Erinnerungskultur zentralen Ort gewünscht. Die Vergangenheit zeigt, wie gefährlich eine enge Verzahnung von Kirche und Politik ist. An diese Lehre sollte sich die evangelische Kirche gerade in diesem Jubiläumsjahr erinnern, in dem sie in trauter Gemeinsamkeit mit der Bundesregierung an Luther und die Reformation erinnert.
Die Ausstellung "Überall Luthers Worte – Martin Luther im Nationalsozialismus" ist bis zum 5. November 2017 geöffnet. Stiftung Topographie des Terrors, Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin. www.topographie.de/