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Kunst als Konfrontation. So lässt sich das Programm von Artur Zmijewski zusammenfassen. Für den Polen wird Kunst erst da interessant, wo sie für andere unerträglich ist. Auszüge aus seinem Oeuvre der Grenzüberschreitungen: Gehörlose Kinder singen Bach-Kantaten; nackte Frauen und Männer spielen vor der Kamera in einer ehemaligen Gaskammer der Nazis Fangen; und, auf der diesjährigen Documenta in Kassel und Athen, eine Filminstallation, die den Besuchern das ganze, unerträgliche Elend im Matsch des Flüchtlingslagers Calais vor Augen führt.
Fast schon gemäßigt wirken da die Fotos aus seiner Reihe "Auge um Auge" von 1998. Ein Paar: er mit amputiertem rechten Bein, sie mal mehr, mal weniger sichtbar. Wer sie in diesem Bild zu seiner Stütze, seinem Sockel gar degradiert, verkennt das kunstvolle Arrangement. Zwei Körper wachsen zu einer bewegten Skulptur. Sie, von der Hand an seiner Schulter bis zur abgedrehten Ferse, ein vertikaler Schwung, der seinem Stand die Schwere nimmt. Fast wirkt es, als schwebten beide. Sie haben sich.
"Auge um Auge" als Sinnspruch für Blutrache – ein Missverständnis
Aber da ist Zmijewski, der sich selbst auch gern als "Sozialwissenschaftler" bezeichnet, ganz in seinem Element. Er nimmt das Ausmaß der Empörung über bloßgestellte Verstümmelung zum Gradmesser für den Umgang einer Gesellschaft mit Andersartigkeit, mit Behinderung oder Handicap – 1998 war diese Empörung sicherlich größer als heute, knapp zwanzig Jahre später. Darum lohnt es, andere Aspekte hinzuzuziehen.
Da wäre der Titel "Auge um Auge" – oft wird dieser biblische Sinnspruch zum Synonym eskalierender Blutrache, Merkmal barbarischer Justiz, die weniger Recht spricht, als dass sie Vergeltung fordert. Ein Missverständnis. Die jüdische Rechtsnorm diente der Eindämmung der Blutrache und war um Ausgleich bemüht. Ebenso, wie auch in Zmijewskis "Auge um Auge" der eine den anderen ergänzt, ausgleicht. Platons Idee vom "hälftigen Menschen" schwingt da mit, der erst als Paar zu einem Ganzen wird. Sieht der Mann nicht auch zufrieden aus? Zeichnet sich nicht ein kleines Lächeln in seinen Bart? Jenseits von Rechts- und Philosophiegeschichte bleibt schließlich noch die pure Lust am Körperlichen.
Zmijewski hat als Bildhauer gearbeitet. Sein skulptural präsentiertes Pärchen wird zum Hybridwesen, zum Menschen aus dem und durch den anderen Menschen. Die Körper ergänzen einander – mit dem netten Nebeneffekt, dass der eine Körper plötzlich gar nicht mehr nur als fehlerhaft oder als von Mängeln geprägt betrachtet werden kann. Denn ein Mangel entsteht erst da, wo der andere fehlt.