Europas Schützengraben. So nannte Ramón Caudevilla, Polizeichef von Ceuta, jüngst seine Stadt. Seit 16 Jahren arbeitet er an Spaniens südlicher Landesgrenze. Dort, an Marokkos nördlichstem Zipfel, trennt ein sechs Meter hoher, doppelreihiger Metallzaun mit Stachel- drahtrollen über acht Kilometer Länge Afrika von der Europäischen Union. Tausende Flüchtlinge aus Mali, Kamerun, Guinea und anderen Ländern harren hier aus, oft jahrelang, überwinden den Zaun, werden geschnappt, zurückgeschickt, warten auf die zweite Chance. Sie leben in Höhlen, bei Müllhalden, im Wald von dem, was sie finden und fangen.
In Massenanstürmen drängen nachts Hunderte über den Zaun. Am Übergang El Tarajal ertranken im Februar 15 Migranten, als sie die Grenze zu umschwimmen versuchten. Die Polizei schoss mit Gummikugeln, Panik brach aus. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström forderte Aufklärung, Spanien forderte Hilfe. „Wir kriegen die Splitter ab und Europa schaut vom Schreibtisch aus zu“, sagt Caudevilla empört.
Ceuta ragt als Bergrücken in die Meerenge hinein, bildet mit der Nase von Gibraltar ein natürliches Tor zum Mittelmeer. Die beiden Felsen heißen auch Säulen des Herakles. In der Antike markierten sie das Ende der Welt. Mehr als 80 000 Menschen leben in der Hafenstadt auf 20 Quadratkilometern. Die Geschichte der Stadt ist geprägt von ihrer Eroberung durch die Portugiesen, von der Übergabe an Spanien, von den Handelsbeziehungen in die ganze Welt, vor allem ins Nachbarland.
Jeden Tag überqueren rund 35 000 Nordmarokkaner die Grenze. Sie haben Passierscheine, warten aber jedes Mal Stunden. Die Wohlhabenden aus Tanger und Tétouan kommen zum Shoppen. Sie lieben Zara, Mango, Decathlon. Ceutas Lidl ist die umsatzstärkste Filiale Europas. Autos, vollbeladen mit europäischen Waren, stauen sich nachmittags an der Grenze Richtung Süden.
Die Armen kommen zum Arbeiten. Ihr Geld verdienen sie im Industriegebiet von Ceuta, in der Markthalle oder im Haushalt einer spanischen Familie. Khadus lebt in Fnideq, Ceutas Nachbar- stadt jenseits der Grenze. Sie ist 48, Muslima, Analphabetin. Jeden Tag pendelt sie acht Kilometer im Sammeltaxi. Mit dem Geld, das sie als Putzfrau und Kindermädchen in Ceuta verdient, unterhält sie ihre siebenköpfige Familie.
„In der Stadt ist kein Platz für sie.“
Sie freut sich auf die Donnerstage, weil ihre Putzfrau dann mittags kocht, Huhn oder Auberginen nach marokkanischer Art. In Yolandas Kühlschrank kleben kleine rote Kreise auf einigen Packungen und Gläsern – Speisen, die nicht halal sind, also nicht nach islamischer Vorschrift zubereitet. „Mittlerweile kaufe ich fast nur noch halal“, sagt Yolanda, „mir ist das egal und für Khadus ist es so einfacher.“
Yolanda de la Guerra wurde vor 35 Jahren in Madrid geboren und kam als Kind nach Ceuta, weil ihr Vater beim Militär war. Später lebte die Familie auf den kanarischen Inseln. Als Studentin kehrte sie nach Madrid zurück, schließlich zog es sie wieder nach Ceuta, wo sie als Reiseleiterin arbeitet. Sie wohnt in einer kleinen Wohnanlage auf dem Monte Hacho, einer bewaldeten Anhöhe auf der äußersten Landspitze. Ins Zentrum braucht sie zu Fuß 20 Minuten. „Das ist Lebensqualität“, sagt sie.
Yolanda versucht, den stillen Krieg an der Grenze zu ignorieren. Was würde passieren, wenn alle Migranten auf einmal die Grenze stürmten? Yolanda schweigt. Dann sagt sie: „In der Stadt ist kein Platz für sie.“
Yolanda und all die anderen Ceutís wollen so leben, wie man es hier seit 600 Jahren tut – in Toleranz, in Frieden, umgeben von Schönheit. Der Altstadtkern ist denkmalgeschützt. Moscheen, Kirchen, enge Gassen, immer wieder das Meer. Die Stadt wird vom Mittelmeer umspült. Ihr Klima ist mild, es gibt Sand- und Steinstrände, Wanderwege führen durch hügelige Landschaftsschutzgebiete, man kann Mountainbike fahren und ausreiten.
Yolanda überquert gerne die Grenze. Wie alle Ceutís hat sie einen Passierschein, der ihr die Warterei erspart. Wenn sie einen Ausflug plant, packt sie nicht nur Bikini und Badetuch ein, sondern auch Wasser- kanister, belegte Brote und alte Kleider. „Für die Migranten“, sagt sie. „In Marokko sieht man sie überall am Straßenrand.“ Die meisten Flüchtlinge machen den vorbeifahrenden Autos Zeichen, dass sie Hunger und Durst leiden. Yolanda stellt Wasserkanister, Brote und Kleider ab, wo sich die Wege zwischen erster und dritter Welt kreuzen.
Sie sind zermürbt und verzweifelt“, sagt Maite Pérez. Die 39-jährige Sozialarbeiterin hat jahrelang im Flüchtlingslager der Stadt gearbeitet, bei denen, die die Grenze überwunden haben. Sie warten auf eine Entscheidung der spanischen Behörden: Ausweisung oder Asyl. Das Lager hat Betten für rund 500 Menschen. Zurzeit leben dort fast doppelt so viele. „Wenn die an der Grenze es schaffen, dann haben wir hier ein Problem“, sagt Pérez: „Nicht nur Ceuta, sondern Europa. Sie kommen aus einem anderen Kulturraum und haben unglaubliche Strapazen hinter sich. Die meisten erhoffen sich nur ein bescheidenes Auskommen. Aber Aufwiegler haben es momentan leicht. Die Stimmung ist aufgeheizt.“
Seit Wochen warten sie auf eine Entscheidung der spanischen Behörden: Ausweisung oder Weiterreise nach Europa?
Überall in der Stadt sieht man Flüchtlinge. Jeden Morgen kommen sie zu Fuß vom Lager am Stadtrand. Sie bieten sich vor Einkaufszentren als Parkeinweiser an, laden Einkäufe in Koffer- räume, tun irgendwas gegen die Langeweile und um Geld zum Telefonieren zu verdienen.
Manche reinigen Ceutas Kirchen, zum Beispiel die der Jungfrau von Afrika im Zentrum. Sie ist die älteste der Stadt. Heinrich der Seefahrer hat sie 1421 gegründet, nach der Eroberung des damaligen Berberstädtchens für die portugiesische Krone. Ceutas Katholiken verehren ihre Schutzpatronin, spenden, beten, sitzen vor dem goldüberfrachteten Altarbild. In den Seiten- gängen putzen an diesem Morgen zwei junge Männer, Tedjoue und Ayukemjang, den Marmorboden. Gemeindeassistentin María Jesús González hat sie eingewiesen. „Es sind ganz wunderbare Menschen“, sagt sie, „nie hatte ich Angst vor ihnen. Im Gegenteil, ich fühle mich sicher, wenn sie da sind.“ Aus der Sakristei holen die Männer Schaufel, Besen, Mopp und Eimer. Tedjoue und Ayukemjang sagen, sie kämen aus Kamerun. Einer spricht Englisch, der andere Französisch. Das Lager ist eine Stunde Fußweg von der Kirche entfernt, dort, wo das Gelände hügeliger wird, im Wald vor der Grenze mit dem Stacheldrahtzaun.
Tedjoue und Ayukemjang haben sie überwunden. Wie, das verraten sie nicht. Nun warten sie seit Wochen auf eine Entscheidung der spanischen Behörden: Ausweisung oder Weiterreise nach Europa? Ceuta ist für sie nicht Europa. Sie mögen die Stadt nicht, und auch nicht das Lager. Nach ihrer langen Reise durch Afrika wollen sie endlich aufs spanische Festland übersetzen.
Sonntags kommen Tedjoue und Ayukemjang mit vielen anderen aus dem Lager zur Messe. Der Priester hält sie wegen der Flüchtlinge in drei Sprachen. In der kleinen Kirche wird dann sehr laut gesungen und gebetet. „Sie habe eine tiefe, ganz andere Spiritualität als wir“, sagt María Jesús. Nach dem Gottesdienst füllt sich der Platz vor der Kirche mit Menschen. Sie plaudern miteinander und treten am frühen Nachmittag den Rückweg ins Lager an.
Auch Historiker José Antonio Alarcón hilft. Er leitet die städtische Bibliothek von Ceuta, versucht, aus ihr einen „interkulturellen Begegnungsort“ zu machen. „Unsere Dienste sind kostenlos“, sagt er, „nur so können wir soziale Benachteiligung ausgleichen.“ Morgens kommen die Flüchtlinge in Scharen in die Bibliothek, um Musik zu hören, E-Mails nach Hause zu schicken und um Dokumente zu fotokopieren. „Viele bringen ihre Studienabschlüsse“, sagt Alarcón, „es sind Anwälte, Architekten, Ärzte dabei.“ Woher sie kommen, darauf achtet er nicht. „Ihr Asylantrag hat nur eine Chance, wenn sie aus einem Krisenland kommen.“
Alarcón verfolgt die Ereignisse an der Grenze mit Sorge. Das Flüchtlingsproblem treffe ja nicht nur Spanien und Europa, sondern auch Marokko. „Wir Ceutís wollen nur eins“, sagt er, „gute nachbarschaftliche Beziehungen.“
30 Kilometer Wasser trennen die Stadt von Europa
Ceuta hat auch viele Sorgen. Fast 40 Prozent der Städter sind arbeitslos. Ceuta hat spanienweit die meisten Schulabbrecher. Bei Bildungsniveau und Durchschnittseinkommen steht die Stadt am Ende des Rankings. Sie gilt als arm und gefährlich. Kein Spanier verbringt hier seine Ferien. Man lässt sich als Soldat oder Polizist gegen Gehaltszuschlag und andere Sonderleistungen hierher versetzen. Die Gruppe der Staatsdiener bildet die solide katholisch geprägte Mittel- schicht, das Gegengewicht zur muslimischen Bevölkerung. Ceutas Unterschicht ist mehrheitlich muslimisch. Viele halten sich mit staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Sozialfürsorge über Wasser. Spaniens Sozialbudget ist klein. In den Randbezirken grassiert Armut.
Fast die Hälfte der Ceutís sind Muslime. „Wir sind Spanier“, sagt Wisam Abdellah Bakur während ihrer Kaffeepause, „Spanier mit muslimischem Glauben. Eigentlich sollte das niemanden verwundern“, sagt die 30-Jährige etwas ungehalten. Sie arbeitet mit dem Historiker Antonio in der Bibliothek. Wisams Vorfahren stammen aus Nordafrika. Sie wurden von Spanien für den Rifkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts rekrutiert. Die Angehörigen dieser „Regulären Indigenen Kräfte“ waren wegen ihrer Geländekenntnis und Widerstandskraft geschätzt. Viele bekamen die spanische Staatsbürgerschaft. Noch heute hält die Elitetruppe Kasernen in der Stadt.
Morgens, wenn die Sonne aufgeht, joggen Soldaten und Polizisten in Zivil an der Ufer- promenade. Beamtinnen bringen ihre Kinder zur Schule, die Teestuben füllen sich, aus den Tapasbars duftet es nach Schmalzgebäck. Studenten nehmen die Fähre nach Andalusien. 30 Kilometer Wasser trennen die Stadt von Europa – und sechs Meter hohe Drahtzäune von Afrika.