"Die brauchen Hilfe, basta!"
Fischer ziehen Flüchtlinge aus dem Meer, trocknen sie ab, geben ihnen Wasser, Hemden und Hosen. Und bringen manche sogar in ihren Familien unter. Sie sind oft die Einzigen auf Lampedusa, die den Gestrandeten zur Hilfe kommen. Sechs Fischer berichten

Einheimische und Militärs in Tarnanzügen flanieren über die Via Roma, die Hauptstraße von Lampedusa. Die Fensterläden der meisten Souvenirgeschäfte und Res­taurants sind jetzt, außerhalb der Urlaubsaison, zugeklappt. Die Rathausuhr ist stehen geblieben, der Ein-Euro-Shop hat Kalender von 2011 im Angebot. In einem Café sind kleine Malereien ausgestellt: Sonnenuntergang im Hafen, schöne Frau am Strand, Palmen vor blauem Himmel. Und dann: Boot voller Flüchtlinge im Sonnenschein.

Über den Bootssteg kommt Pasquale Palmisano angelaufen. Er ist auf dem Weg ins „Café del Porto“ und macht kurz Halt.

"Schreib: Es ist eine Schande! Seit 20 ­Jahren schenken wir Lampedusaner den Flüchtlingen unser Herz. Wir Fischer haben es in uns, den Leuten zu helfen, wenn sie in Not sind. Wie sie dann im Auffanglager behandelt werden, das würde ein Lampedusaner niemals tun. Das denken sich die in Palermo und Rom aus. Die gehören ins Gefängnis! Uns macht es total fertig, wenn wir erfahren, wie die Welt uns sieht. Wir sind doch keine Rassisten! Schöne Werbung ist das! Bald kommt kein einziger Tourist mehr hierher."

Neben dem Hafen liegt der Schiffsfriedhof: alte Boote mit arabischen Namenszügen, zersplittertes Holz, rostige Nägel, verfilzte Decken, Wasserkanister, Kinderschuhe, zusammengefallene Schlauchboote. Weiter hinten steht der Fischer Vincenzo Billeci auf seinem Kutter und flickt seine Netze. Er beginnt zu erzählen.

"2011 kamen so viele Flüchtlinge hier an, dass sie unter freiem Himmel im Hafen übernachten mussten. Als ich abends eingelaufen bin, bat mich ein Junge um zwei Fische für sich und seinen Freund. Sie waren um die 16 Jahre alt, so alt ­wie meine Söhne. Sie hatten seit drei Tagen nichts gegessen. Ich habe ihnen gesagt: ‚Ihr bekommt keinen Fisch, ihr bekommt ein Zuhause.‘ Meine Frau hat dann für sie gekocht. Iheb und Sabri gingen danach noch einmal zum Hafen, um auch ihren Freunden etwas von dem Essen abzugeben. Sie schliefen im Zimmer meiner Söhne. Sie nannten uns Mama und Papa. Eine Woche waren sie bei uns.

Nicht die Not hat Iheb hierhergetrieben. Er stammt aus einer reichen Familie. Er hat mir Fotos von der Villa seines Vaters gezeigt. Seine Eltern waren geschieden, er wollte zu seiner Mutter gelangen, die in Nizza lebt. Er hatte sie seit drei Jahren nicht gesehen. Als Minderjähriger durfte er nicht auf eigene Faust ausreisen. Also nutzte er das Chaos des Arabischen Frühlings und hat sich schleusen lassen.

Der Junge hat sein Leben riskiert, um hierherzukommen. Dafür verdient er meinen Respekt. Ob er auf der Flucht ist vor Krieg, Hunger oder Armut, ob aus Leichtsinn oder weil er seine Mutter vermisst? Das ist mir egal. Niemand läuft von zu Hause weg, wenn es ihm gut geht. Dann kam Silvio Berlusconi, der frühere Ministerpräsident Italiens, zu uns und tönte: ‚In 48 bis 60 Stunden wird Lampedusa nur mehr von Lampedusanern bewohnt sein.‘ Iheb hat zum Abschied gesagt: ‚Alles was ich trage, ist von euch, mein Hemd, meine Hosen und Unterhosen. Das Einzige, was von mir ist, ist mein Koran.‘ Er hat ihn uns geschenkt.

Seit der Katastrophe vom 3. Oktober, als 366 Flüchtlinge ertranken, fliegen immer mehr Flugzeuge und Hubschrauber der Grenzeinheit Frontex die Küste ab. Es sind auch mehr Schiffe des Grenzschutzes unterwegs. Sie wollen die Flüchtlinge jetzt früher abfangen. Aber draußen auf dem Meer sind es noch immer wir Fischer, die sie zuerst entdecken. Wenn wir ein Flüchtlingsschiff in den Hafen begleiten, geht uns ein Arbeitstag ver­loren, aber wir tun es gern. Eine Entschädigung bekommen wir dafür nicht, meistens bezahlen die Behörden uns noch nicht einmal das Benzin fürs Abschleppen. Aber wir rechnen nicht aus, was es kostet, ein Leben zu retten."

Zwei junge Männer schlendern entlang.

"Die beiden hab’ ich noch nie gesehen. Sind nicht von hier. Sie wohnen sicher im Flüchtlingslager. Es gibt ein Loch im Zaun dort. Jeder weiß das, auch der Leiter des Aufnahmelagers. Er lässt es bewusst offen, damit die Flüchtlinge rauskönnen. Inoffiziell, versteht sich, denn er will keine Verantwortung übernehmen, wenn was passiert. Aber er hat Angst vor Unruhen in der überfüllten Anlage. Das Lager ist für uns tabu, nicht einmal die Bürgermeisterin darf rein. Wir nennen es die ‚Insel auf der Insel‘."

Pino Russo ist 42 Jahre lang zur See gefahren, davon 38 Jahre als Kapitän. Jetzt arbeitet er als Koch im Restaurant seines Sohnes. Er berichtet:

"Wir holten gerade die Netze ein, als ein Schlauchboot mit Flüchtlingen näher kam. Delphine lauerten auf die kleinen Fische, die aus dem Netz rutschten. Sie umkreisten unser Schiff, sprangen in die Luft, direkt neben dem Schlauchboot. Die Flüchtlinge gerieten in Panik, lehnten sich alle auf die andere Seite, das Boot kippte. Ein einjähriges Mädchen und eine Frau sind ertrunken. 21 Menschen konnten wir aus dem Wasser ziehen. Einen Monat später wollte mir die Hafenkommandantur irgendeine Bronzemedaille verleihen, aber ich bin nicht hingegangen. Jeder würde sich so wie wir verhalten. Wissen Sie, Leute aus Sizilien und Lampedusa wandern seit 200 Jahren aus, in die Vereinigten Staaten, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Sie suchen Arbeit, ein Zuhause, eine Zukunft. Das kann man niemandem vorwerfen."

240 Kilometer nördlich von Lampedusa liegt die sizilianische Stadt Mazara del ­Vallo, Sitz des größten Fischereihafens ­Siziliens. Die Fischer, die hier leben, sind mit großen Fischfangschiffen bis zu 40 Tage lang auf See. Maschinist Matteo Giaca steht im Maschinenraum seines Schiffs. Er kann gerade aufrecht stehen. Neonlicht. Ein ­Metallsteg führt um den blauen Motor in der Mitte herum. Ventile, Druckmesser, Ladestandsanzeiger, Schläuche. An der Wand hängen Schraubenzieher und Ohrenschützer. In einer Ecke stehen Arbeits­stiefel, daneben Schlappen. Es riecht nach Metall und Diesel, aber es ist blitzsauber. Matteo Giaca be­ginnt zu erzählen:

"Hier ist mein Zuhause. Ich sorge dafür, dass der Motor läuft. Wenn viel zu tun ist und es laut ist im Maschinenraum, geht’s mir gut. Auch nachts in der Kombüse, wenn die Wellen ans Boot klatschen. Aber auf dem Festland fängt es wieder an, nachts, vor allem, wenn es regnet. Ich schrecke hoch, meine Frau fragt, was los sei. Ich erzähle ihr nichts. Ich sage ihr bloß: Es ist mein Defekt.

Dass ich immer wieder daran denken muss. Es war 2011, ein Uhr nachts, scheußliches Wetter, Windstärke fünf, die Wellen zwei, drei Meter hoch. Wir holten gerade die Netze ein, damit sie nicht reißen. Die Flüchtlinge kamen in völliger Dunkelheit heran, aus dem Nichts. Zuerst weißt du nicht, ob es Piraten sind, ob sie Messer haben oder Pistolen. 30 saßen in dem Holzboot. Sie waren total entkräftet. Als wir sie auf den Kutter hochzogen, fühlten sich schwer an wie Kartoffelsäcke. Einer ­hatte sich wohl den Kopf gestoßen, schien  ohnmächtig zu sein. Ich konnte ihm nicht helfen, ich musste die anderen heraufziehen. So wurde er zerquetscht, als die beiden Boote aneinander stießen. Es war ein schreckliches Geräusch.
 
Über so etwas sprechen wir Fischer nicht. Ich versuche, das alleine wieder hinzubekommen. Mein Defekt hat sich eh schon wieder etwas gelegt, ich kann schon wieder besser einschlafen. So, jetzt muss ich heim. Aber ich zeige euch noch schnell den Mannschaftsraum. Hier um den Tisch herum saßen sie. 27 Leu­te. Wir gaben ihnen Wasser, dann Milch. Bloß nichts zu essen! Ihr Magen war verschlossen, er konnte erst mal keine Nahrung aufnehmen. Einer war bewusstlos, ich legte ihn auf eine Matratze auf den Boden, zog ihm die nasse Kleidung aus und föhnte ihn. Die anderen Flüchtlinge sahen zu. Irgendwann ist er aufgewacht. Als er alle um sich herum versammelt sah, hat er gelacht. Da haben sie alle geklatscht. Daran denke ich gern.

Ich bin bestimmt kein Heiliger, jeder andere hätte in meiner Situation genauso gehandelt. Es sind Menschen, die Hilfe brauchen, basta. Und wenn sie bleiben wollen, sollen sie. Es ist doch genug Platz da. Ich habe meine Hose verschenkt, mein Hemd und meine Schuhe. Und als wir zurück im Hafen waren, bin ich in Schlappen heimgegangen."

Fischer Filippo Solina ist in den Hafen eingelaufen, hat seinen Fang in großen schwarzen Kübeln an Land gebracht und raucht eine Zigarette. Nicht die Flüchtlinge sind das Problem, sondern die Schlepper, berichtet er. Draußen auf dem Meer, in internationalen Gewässern, lassen sie die Flüchtlinge nachts von ­ihrem großen Schiff in kleinen Schlauchbooten ins Wasser steigen, alle paar ­Meilen eins, und drehen ab, um nicht ­entdeckt zu werden. Ein Riesengeschäft sei das. Während Filippo Solina erzählt, hat sich einer seiner Kollegen dazugesellt. Er nimmt uns zur Seite, erzählt vertraulich: 

"Die Küstenwache muss nicht erfahren, dass ich diese Geschichte erzähle, denn sie macht darin keine gute Figur. Vor ein paar Jahren entdeckten wir ein Boot mit Flüchtlingen, etwa 16 Meilen südlich von Lampedusa. Als die Küstenwache kam, brachten sie die Menschen mit ihrem eigenen Motorschiff zum ­Hafen. Das Flüchtlingsboot ließen sie im Meer zurück. Ich wollte es ab- schleppen, raus aufs offene Meer bringen und dort versenken. Das machen wir immer so: Wir markieren dann die Stelle mit dem GPS, warten ein paar Jahre, bis sich viele Fische im Wrack tummeln, und wenn wir wieder hinkommen, ­machen wir einen guten Fang. Ich ­steige also auf das Boot, um ein Loch hineinzuschlagen, da rumpelt etwas im Inneren. Ich bin total erschrocken. Aus der Luke ganz vorne, wo Seile, Bojen und Anker verstaut sind, krabbelten zwei völlig entkräftete Flüchtlinge hervor. Sie waren wohl dort eingeschlafen.

Die Küstenwache hat sich nicht die Mühe gemacht, nachzusehen. Hätte ich sie nicht entdeckt, wären sie auf dem Meer zurückgeblieben."

Nicola Amzaldi sitzt am Hafenpier und schaut aufs Wasser. Wenn er wie jetzt wegen der Winterstürme nicht zum Fischen auf dem Meer ist, geht er angeln. Er erzählt von einer nächtlichen Fahrt, die immer wieder vor seinem inneren Auge abläuft.

"Gegen zehn Uhr abends sind sie aufgetaucht aus der Nacht. Haltet Abstand!, haben wir ihnen zugerufen. Wir hatten Angst, dass ihr Schlauchboot kentert, wenn es zu schnell auf uns zufährt. Es sind ja keine Seeleute drauf. Ich stand an der Reling, schaute hinunter, sah eine junge Frau. Sie hatte etwas in der Hand. Plötzlich hob eine Welle das ­kleine Boot unserem viel höheren Schiff entgegen. Die Frau nutzte diesen Moment und warf etwas nach oben. Ich griff hinunter ins Dunkle, bekam es mit beiden Händen zu fassen. Es war nicht schwer, es war ein Baby. Ich hielt es im Arm, brachte es dann nach unten in meine Kajüte. Ich gab ihm Milch. Nach einer halben Stunde brachten sie seine Mutter zu uns. Ich weiß nicht, wie die beiden hießen. Ich weiß auch nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich habe nicht geweint, als ich sie zusammen sah. Aber ich war kurz davor."


 

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