Die Debatte um ihr Familienpapier lässt die evangelische Kirche auch auf ihrer Synode in Düsseldorf nicht los. Es scheint kaum einen Brückenschlag zwischen der einen Position zugeben, die Kirche stelle das bisher geltende Leitbild der christlichen Familie aus Vater, Mutter und Kindern in Frage, und der anderen, auch alle übrigen Partnerschaftsformen verdienten die Unterstützung der Kirche. Will die Kirche mehr oder weniger, so lautet die Frage: Will sie ein Mehr an Aufmerksamkeit und Fürsorge für die neuen Partnerschaften oder entzieht sie ihre Unterstützung für das Leitbild der traditionellen Ehe?
Als in diesem Sommer der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland seine „Orientierungshilfe“ „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ veröffentlichte, handelte er sich eine Grundsatzdebatte sonder gleichen ein. Der gewaltigste Vorwurf: Die Autoren haben die Bibel wohl nicht richtig gelesen. Gibt es da nicht eine klare Verurteilung der Homosexualität? Werden Ehebrecher nicht als Sünder bezeichnet und manche von Gott sogar mit dem Tod bestraft? Wie will die Kirche es denn theologisch rechtfertigen, dass sie faktisch keinen Unterschied mehr macht zwischen „ordentlichen“ Eheleuten und den vielen anderen Partnerschaften?
"Die Bibel ist kein Bestätigungsbuch für eigene Meinungen"
Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, räumte dem Grundsatzstreit um die Ehe in seinem Rechenschaftsbericht vor der EKD-Synode einen besonderen Stellenwert ein und räumte mit etlichen Fehlinterpretationen des Papiers auf. Das bezieht sich zuallererst auf den Umgang mit der Bibel. Und da lauern viele Gefahren, nicht zuletzt die, sich selbst zum Maßstab aller Ethik zu machen. „Die Bibel“, so der Ratvorsitzende, „wird zu einem Bestätigungsbuch unserer eigenen Glaubensüberzeugungen degradiert. Wir müssen sie aber – um es mit Dietrich Bonhoeffer zu sagen – nicht nur für uns, sondern auch gegen uns lesen.“ Das sprach er nicht bezogen auf die EKD, sondern ganz grundsätzlich. Er hätte auch formulieren können: Seid nicht so selbstzufrieden, versteift euch nicht auf einzelne Formulierungen aus der Bibel.
Das Familienpapier der EKD ist eine der Ursachen für die Verwerfungen, die sich zwischen Günther Beckstein, der sich um das Amt des Synodenpräses beworben hatte, dann aber nach zwei erfolglosen Wahlgängen seine Kandidatur zurückzog, und einer liberalen Synodenmehrheit. Beckstein hatte seine Kritik am Familienpapier wiederholt pointiert zum Ausdruck gebracht und sich damit gegen die EKD-Spitze gestellt. Aber es geht in diesem Streit nicht um Personen, sondern um Grundsätzliches. Ein Hauptpunkt: Was hat uns die Bibel heute noch sagen? Ist sie nicht mehr verbindlich für eine evangelische Ethik?
Nikolaus Schneider, der EKD-Ratsvorsitzende, erinnerte an die heftigen Auseinandersetzungen, als die Frauenordination in der evangelischen Kirche eingeführt wurde. Auch damals gab es schmerzliche Debatten darüber, was in der Bibel über die Frauen steht, und das ist oft nicht das freundlichste. Und doch kam, aus Vernunft und mit Blick auf ganz andere Sätze der Bibel, die Ordination der Frauen. Und ernst nehmen muss man auch, so Nikolaus Schneider sinngemäß, dass nicht nur die Ehe, sondern auch die homosexuelle Liebe heute etwas anderes sind als in biblischen Zeiten.
Schneider ließ sich nicht aufs Glatteis locken
Die evangelische Kirche bringt der Ehe von Frau und Mann Wertschätzung entgegen, sagte Nikolaus Schneider, und erntete damit Applaus in der Synode. Er ließ sich klugerweise nicht auf das Glatteis locken, dass eine Partnerschaftsform „mehr Wert“ habe als alle anderen. Und er blieb bei seiner Linie: Die Ehe ist Leitbild für das Zusammenleben von Paaren. „Gleichzeitig sprechen wir Alleinerziehenden, ‚Patchworkfamilien’ und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nicht ab, dass Menschen darin treu, vertrauensvoll, verantwortlich und liebevoll zusammenleben können.“
Das Thema Familie wird die evangelische Kirche intensiv weiter beschäftigen, dann in der theologisch noch viel anspruchsvolleren Weise, nämlich unter der Schlagzeile: Was lässt sich in der Bibel neu entdecken zum Thema Ehe und Familie? Sollten es doch nur die altbekannten Sätze sein, die zum Beispiel Homosexuelle auszugrenzen scheinen. Oder führt ein kluger Umgang mit der „großen Liebe der reformatorischen Kirchen“, der Bibel, dazu, dass sich auch die Menschen in den unterschiedlichsten Lebensformen ernst genommen fühlen. Und dorthin gibt es nur einen Weg: die biblischen Texte „im Kopf und Herzen zu meditieren, zu reflektieren und unter Umständen auch zu kritisieren“. Wozu brauchte man auch eine Kirche, die nur den Kopf, nicht aber ihr Herz einsetzte?