Die Kirche zeigt, wie sie mit Streit umgeht. Und entdeckt dabei ein urevangelisches Thema neu
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
27.09.2013

Schwer hat die Kritik der vergangenen Monate der evangelischen Kirche zugesetzt. Die Ehe am Abgrund! Die vielfach formulierte Befürchtung: Die Kirche hat ohne Not ihre bewährte Überzeugung über Bord geworfen, das "Leitbild" Ehe, den Lebensbund von Mann und Frau, als Maßstab für alle Partnerschaften verworfen. Stein des Anstoßes, für konservative Protestanten, aber nicht nur für sie, war die sogenannte Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit - Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken".

Es ist ein mutige kirchenoffizielle Stellungnahme, veröffentlicht mit der Ziel, auch jene Partnerschaftsformen der Fürsorge der Kirche zu empfehlen, die sich von der klassischen Familie aus Mann, Frau und Kind unterscheiden. Darunter, auch und nicht zuletzt, die Partnerschaften von Schwulen und Lesben. Da befürchten die Anhänger der traditionellen Ehe schnell die Auflösung zentraler Werte. Andere sehen durch die Orientierungshilfe die lebenslange Dauer der Ehe in Frage gestellt. Ein Irrtum, wenn man das Papier genau liest.

Plötzlich ein spannender Grundsatzstreit

Die Evangelische Kirche in Deutschland tat, was Protestanten tun, wenn es zum Streit kommt: Sie geben dem Streit Raum. In einer für die Vorbereitung außerordentlich kurzen Zeit stellte sie ein wissenschaftliches Symposium auf die Beine. Vier Theologieprofessoren unterschiedlichster Couleur ließen ihre Argumente aufeinanderprallen. Der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, lud gleich zu Beginn zur offenen Debatte ein, der Kirchenhistoriker Christoph Markschies von der Humboldt-Universität moderierte humorvoll und kenntnisreich.

Und es passierte etwas Bemerkenswertes: Bald entwickelte sich das Krisengespräch zur Debatte um den Stellenwert der Bibel für die Ethik von heute. Im Nu war aus einer kritischen Auswertung eines Kirchendokuments ein spannender Grundsatzstreit geworden: Was darf man mit der Bibel anstellen? Muss, wer evangelisch ist, wörtlich an die Bibel glauben, also auch deren herbe Formulierungen gegen die Liebe zwischen Männern? Was darf man aus der Bibel heraus-, was in sie hineinlesen? Was tragen die Verhältnisse vor 2000 Jahren überhaupt für die Lebensbewältigung im Jahr 2013 bei?

Im Grunde ist es eine Wunschdebatte in Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017: die existentielle Bedeutung der Bibel neu zu erforschen, so wie Martin Luther es getan hat. Er stieß dabei allerdings nicht auf Moralismus, sondern auf eine befreiende Botschaft. 

Das Spektrum der Kontroversen: nirgends dargestellt

Einfacher ist es sicherlich, einen einzelnen Satz aus der Bibel herauszugreifen und ihn wie ein Schild vor sich herzutragen. Nur: das wird selten der Intention der Bibel gerecht und führt oft zu verstiegenen moralischen Positionen. Paradebeispiel: die in der Bibel empfohlene Steinigung für Ehebrecher. Christoph Markschies wies treffend darauf hin, dass "wir viele Vorschriften der Bibel gegen ihren Sinn auslegen". Und die Hamburger Theologieprofessorin Christine Gerber machte am Beispiel der biblischen Ehevorstellungen deutlich: Wir benutzen Begriffe aus der Bibel ganz so, als würden sie damals und heute dasselbe bedeuten. Aber die Ehe im heutigen Sinn gab es in biblischer Zeit noch nicht. Wir füllen angeblich zeitlose Begriffe mit subjektiven Erfahrungen. Die Objektivität der Begriffe ist eine Fiktion, die Interpretation immer bereits mitgedacht.

Dass die Orientierungshilfe "nicht einmal den Versuch macht, das Spektrum möglicher Kontroversen und Antworten darzustellen (so die Kritik von Klaus Tanner, Professor für Systematische Theologie in Heidelberg), ist eine Schwäche. Denn Ehrlichkeit im Umgang mit den Differenzen kann Klärungen möglich gemacht. Dieses Papier, so Tanner, suggeriert auch im Umgang mit Rechtsbegriffen "eine Eindeutigkeit, die de facto in der politischen Kultur nicht gegeben ist". Auch Politik und Rechtsprechung ringen um eine Bewertung von Ehe und Familie. Ihnen, so darf man Tanner verstehen, hätten kluge Einlassungen der Kirche wohl gut getan und zu eigenen Klärungen beigetragen. Bleibt da die Kirche der Öffentlichkeit etwas schuldig? Den behaupteten radikalen Bruch mit der bisherigen Linie der Kirche stellt Tanner aber in Abrede. Aber ebenso gebe es keine "zeitenthobene Standort-Ungebundenheit", gewissermaßen ein Zustand, der "uns einfach über unsere Kontexte und Prägungen erhebt". 

Der merkwürdig unpräzise Begriff "Leitbild"

Der Streit, ausgetragen in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt, hätte heftiger ausfallen können. Aber jede angebotene Schelle muss sich die Kirche (konkret: die Ad-hoc-Kommission, die das Papier erarbeitet hatte) auch nicht umhängen lassen: zum Beispiel dass ihr Papier theologisch nur wenig Substanz aufweise (Markschies: "Die theologische Basis zu legen, war gar nicht Auftrag der Kommission"). Richtig ist allerdings auch: Seit 2009, dem Jahr eines evangelischen Gutachtens zur Ehe, steht die erhoffte Klärung "des evangelischen Verständnisses von Ehe und Eheschließung" (so Hermann Barth, der frühere Präsident des Kirchenamts) aus. Die aktuelle Orientierungshilfe bringt sie nicht. Sie sollte es auch nicht. 

Aber es gibt andere fassbare Ergebnisse des Symposiums. Höchste Zeit war es zum Beispiel, den "merkwürdig unpräzisen Begriff Leitbild" (Markschies) zu hinterfragen. Es ist ein Wort, das unweigerlich moralische Höher- und Minderwertigkeit suggeriert. Und die Höherwertigkeit der Ehe meinen auch manche, die ihn benutzen. Wer Präzision liebt, dem ist mit dem Begriff Leitbild schlecht gedient. Der passe eher zu einem Unternehmen wie der Deutschen Bahn, so Moderator Markschies.

Sexualität: eine gute (aber gefährdete) Gabe Gottes

Was folgt nun nach Monaten des Streits über ein Papier, dem so viel Explosivität zunächst gar nicht zugetraut worden war? Der Heidelberger Emeritus Wilfried Härle hält ein Wort des Rates für erforderlich, um die "aufgetretenen Missverständnisse" und "Irrtümer" zu klären. Dazu gehören für ihn auch die Fragen, wie man die Bibel auslegt und ob die Vielzahl der Lebensformen "nur Unterstützung" statt Kritik verdienen. Aber der erfahrene Systematiker erschöpft sich nicht in Verrissen, er zählt auf, was für ihn aus theologischen Gründen unverzichtbar zur Ehe gehöre: Sexualität als gute (wenn auch gefährdete) Gabe Gottes, die lebenslange Gemeinschaft der Partner, der Schutz der Ehe durch die Rechtsordnung, die Verurteilung des Ehebruchs, gleiche Rechte und Würde für Mann und Frau, schließlich der Schutz des Kindeswohls. Härle fordert ein klärendes Wort der Kirche, nicht aber eine Entschuldigung, wie er betont. 

Ich wünschte mir, dass etwas mehr von dem historischen Wissen der Hamburger Exegese-Professorin Christine Gerber Gemeingut würde: dass im Neuen Testament eigentlich die Geschwisterliebe, nicht die Ehe als Ideal dargestellt wird; dass Jesus und Paulus dem Familienleben  ziemlich distanziert gegenüberstanden; dass es Konkubinate auch in den ersten Gemeinden gab; dass nur Frauen treu sein mussten. Von der Unterordnung der Frauen unter die Männer ganz zu schweigen. Ehrlich gefragt: Was davon kann heute Bestand haben?

Einer der theologischen Kernsätze, die in Berlin die Debatte um die Familienschrift der EKD befeuerten (für Eingeweihte ist die Erkenntnis nicht ganz neu), heißt: "Schriftgemäß wird eine Beziehungsethik nicht durch Formen, sondern durch die Orientierung an Liebe und Gerechtigkeit." Christine Gerber sagte ihn in ihrem Statement. So einfach und so klar kann Theologie sein.

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Was die evangelische Kirche nicht sieht ist, dass inzwischen verheiratete Paare mit mehr als drei Kindern gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden. Wer mehr als drei Kinder hat, gilt als asozial und nicht zeitgemäß.

Gleichzeitig dominieren Menschengruppen, die sich über Ihre Sexualität definieren und aufgrund professioneller Medienarbeit ihrer Verbände und Lobbygruppen, immer mehr die öffentlichen Diskurse dominieren. Was zur Folge hat, dass die auf Dauer ausgelegte Heirat zwischen Mann und Frau sowie das Gründen einer Familie mit mehreren Kindern zum gesellschaftlichen Randphänomen in Deutschland geworden ist.

Ein gleichgeschlechtliches Paar kann sich in einer deutschen Großstadt offen küssen, ohne dass irgendjemand was sagt. Das halte ich für richtig. Wenn ich jedoch mit meinen Kindern durch die Straßen gehe, werde ich an jeder Ecke angesprochen. „So viele! Muss das sein!“. Und das ist ein Problem.

Hier hätte die evangelische Kirche die Chance gehabt, klar Stellung zu beziehen und Familien mit Kindern zu stärken. Was dabei herausgekommen ist, ist das übliche „Mainstream-Toleranz-Gelaber“ gegenüber Menschen, die aus Ihrer Sexualität einen öffentlichen Kult gemacht haben.

Die Gesellschaft scheint vergessen und verdrängt zu haben, dass ihr Fortbestand von Familien abhängt. In der Politik gibt es schon lange keine Lobby für Familien mehr, nur noch Wirtschaftspolitik. Unter "Familienfreundlichkeit" läuft sogar der Ausbau der Krippenbetreuung, welche nicht nur unsere Kleinsten und Vulnerabelsten einer gesundheitsgefährdenden Stressbelastung aussetzt sondern auch Mütter um viele innige Momente der wundervollen Exklusivbeziehung zwischen ihr und dem Baby und Krabbelkind bringt.
Und die Kirchen? Statt sich an die Seite der ausgebeuteten und herabgewürdigten Eltern zu stellen, die ihre innerfamiliären Arbeitsleistungen bis heute "für lau" abzuliefern haben, suchen sie ihr Heil in einem fehlgeleiteten Opportunismus an eine Pseudomoderne, die als Amalgam aus Fossilfeminismus und Konsumismus die Familie als Einheit liebevoller Fürsorge und Verantwortung an den Rand der Existenz gedrängt hat.