chrismon: Pilatus fragt ja Jesus im Johannes-Evangelium: Was ist Wahrheit? Aber er wartet gar nicht die Antwort ab. Wir schon. Was ist Wahrheit?
Michael Jürgs: Es gibt viele Wahrheiten, und jeden, der behauptet, dass er die Wahrheit gepachtet hat, betrachte ich mit großem Misstrauen, ob das nun eine Kirche ist oder eine Partei. Als Journalist habe ich immer vor Fundamentalisten gewarnt – ohne aber dabei das, was ich sage oder schreibe, für die endgültige Wahrheit zu halten. Die Zeiten gab’s zwar auch mal, aber die habe ich heute hinter mir.
Bernhard Fischer-Appelt: Wahrheit ist das, woran man glaubt. Es gibt heute keinen abstrakten Diskurs mehr um Wahrheit, sondern es geht um das, was als „echt“, „authentisch“, „mit Tiefgang“ wahrgenommen wird. Wer will, dass man ihm glaubt, muss heute authentisch auftreten. Und da gibt’s große Unterschiede: Der eine Unternehmenschef verkündet steigende Gewinne und entlässt am gleichen Tag Mitarbeiter. Dafür wird er dann in den Medien geprügelt. Es wird wieder eine Sau durchs Dorf getrieben. Der andere verkündet seine Entlassungen lieber zwei Tage nach Weihnachten, wenn keiner Zeitung liest. Die Frage ist dann: Was ist authentischer?
Aber wer treibt denn eigentlich die Sau? Sind das die Journalisten? Oder sind das nicht Leute aus Ihrer Branche, Herr Fischer-Appelt, also PR-Profis?
Fischer-Appelt: Ich glaube, dass in den Medien tatsächlich an vielen Stellen die Überlegungen von Kommunikatoren sichtbar werden. Man muss das mediale Spiel spielen. Wer das kann, der kann auch die Öffentlichkeit prägen. Wer das nicht kann, der ist verloren. Wer nur an Expertise, an Fachwissen, an Fakten glaubt, der wird nichts bewegen.
Jürgs: Und die Medienmacher denken, sie müssten mitspielen. Statt sich mal kühl zurückzulehnen und zu fragen, was sind eigentlich die wichtigen Themen.
Findige PR-Leute können also Themen nach Belieben setzen oder unterdrücken?
Fischer-Appelt: Das geht mit manchen Journalisten, aber sicher nicht mit allen.
Jürgs: Die Versuche, die Medien zu steuern, sind jeden Tag sichtbar, aber die meisten Journalisten fallen nicht drauf rein. Nichts ist zum Beispiel verräterischer, als Politikern die Kamera aufs Gesicht zu halten. Nahaufnahme: Da kann man genau sehen, was den bewegt und wo sein Statement verlogen ist. Aber nehmen wir mal die Inszenierung der SPD auf ihrem Wahlparteitag 1998 in Leipzig, das war fast ein Gottesdienst, beeindruckend. Und, ja: Das hat damals sicher die Wahl mitentschieden. Das war gelungene Kommunikation.
Fischer-Appelt: Ein Gegenbeispiel: „Hartz“. Hartz II – da weiß schon keiner mehr, was das ist, besser bekannt unter dem Begriff „Minijobs“. Das war eigentlich eine echte Erfolgsstory, weil heute jeder weiß, was ein Minijob ist. Das hieß früher „geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bis 415 Euro“. Konnte kein Mensch begreifen. Jetzt, wo man es begreift, funktioniert’s auch. Hartz IV dagegen: Ich habe bis heute niemanden getroffen, der mir das auf einen Satz bringen kann. Es ist ein Mysterium, das durch seine Unklarheit Angst erzeugt. Hartz IV zerstört alte Identitäten, ohne neue zu schaffen. Identitätsangebote muss man aktiv entwickeln – das ist keine Aufgabe für kritische Journalisten, sondern für Kommunikatoren.
Jürgs: Richtig, Hartz IV, das klingt wie Pershing II. Da hätten sich ruhig mal ein paar PR-Profis vorher zusammensetzen sollen und fragen: Wie kann ich das Ding verkaufen?
Sitzen Sie also im gleichen Boot?
Fischer-Appelt: Wir können ja beide nicht ohneeinander. Journalismus ohne positiven Input durch gute PR tendiert ins Depressive. Und PR ohne Medien ist, wie wenn jemand einsam in den Wald schreit.
Jürgs: Journalisten sorgen dafür, dass jede Lüge irgendwann entlarvt wird. Die kann noch so gut sein, irgendwann kommt es raus. Daran glaubt jeder gute Journalist. Selbst der geschickteste PR-Mensch wäre längst öffentlich hingerichtet, wenn er bei großen Lügen ertappt worden wäre. Kein Mensch gibt Herrn Hunzinger ...
... Sie meinen den PR-Berater, über den Rudolf Scharping und Cem Özdemir gestolpert sind ...
Jürgs: ... dem gibt heute niemand mehr einen Auftrag. Das Einzige, was bei dem noch interessant ist für uns Journalisten, ist die Liste mit seinen 9000 Vertrauten. Wer da noch drauf ist – welche Namen zu welchem Preis.
Michael Jürgs: „Der Journalist braucht einen moralischen Standpunkt“
Wie nötig sind Skandale?
Fischer-Appelt: Skandale verzerren systematisch unsere Aufmerksamkeit. Beim Megaskandal BSE etwa gab es einen großen Aufschrei, aber am Ende sehr wenige Betroffene. Es haben viele Landwirte ihre Existenz verloren, aber kaum ein Mensch seine Gesundheit. BSE hatte alles Nötige, um nach der Formel eines Skandals zu funktionieren: hohes Risiko mit vielen potenziellen, aber wenig tatsächlichen Opfern. So ein Fall ist viel medientauglicher als eine Grippewelle mit 30000 Toten. Der BSE-Skandal zeigt: Medien bilden nicht nur die Wahrheit ab. Hinter jeder Nachricht stehen Meinungen und Interessen.
Jürgs: BSE lässt sich wunderbar filmen, an der Fleischtheke nämlich. Der viel größere Skandal, über den aber nicht massenhaft geschrieben wird, ist Alzheimer. Wir haben 1,2 Millionen Kranke in Deutschland, wir haben pro Jahr 50 000 Neuerkrankungen, wir haben durch die größere Lebenserwartung immer mehr Alzheimerkranke – aber es ist ein Tabuthema. Nehmen Sie dagegen den Tsunami, die hohe Aufmerksamkeit und Spendenbereitschaft für die Flutopfer. Was ist mit dem Morden in Darfur? Wenn in Darfur Touristen wären, wäre das längst gestoppt.
Fischer-Appelt: Dass die Deutschen mit ihren Tsunami-Spenden eines der besten Ergebnisse weltweit erzielt haben, sollten wir aber ruhig auch mal zelebrieren. Da könnten wir doch mit der ewigen Selbstgeißelung aufhören.
Gegeißelt werden in letzter Zeit auch Deutschlands Wirtschaftslenker. Zu Recht?
Fischer-Appelt: Dass die Öffentlichkeit die Wirtschaftsführer mit Inbrunst abwatscht, finde ich reichlich unangemessen. Die Wirtschaft hat viele Reformen hinter sich, die der Politik noch bevorstehen. Auf der anderen Seite müssen die Vorstände ihre gesellschaftliche Führungsrolle akzeptieren und die Menschen mitnehmen. Ich glaube, dass Wandel immer ein Profil haben muss. Schaffen Wirtschaftsführer es, dieses Profil überzeugend zu vermitteln? Daran sollten Unternehmenschefs gemessen werden und eben nicht nur an Kostensenkung. Aber viele deutsche Manager ziehen sich zurück. Kein Manager eines Dax-30-Unternehmens würde jemals zu Sabine Christiansen oder Johannes B. Kerner in die Talkshow gehen. Ich glaube aber, dass sich da etwas entzweit hat, was zusammengehört.
Jürgs: Ich ziehe andere Konsequenzen. Nehmen wir mal Herrn Ackermann von der Deutschen Bank. Er hat 2,8 Milliarden Euro Jahresgewinn erzielt, eine enorme Steigerung gegenüber dem Vorjahr, und sagt: Jetzt will ich aber 25 Prozent Rendite, denn sonst wird die Bank übernommen von anderen. Wenn er zu diesem Zweck 6000 Leute entlassen will, dann wäre das doch tatsächlich der Moment, wo er entlassen werden müsste. Aber wenn man diesen Leuten so etwas sagt, wenn sie, die seit Jahren auf den Gewerkschaften herumhauen, mal eins zurückkriegen, dann weinen sie wie die geschlagenen Kinder. Und da fehlt der PR-Berater, der sagt: Hör mal zu, jetzt schweigst du, das sagst du, das nicht, in die Sendung gehst du, in die nicht.
Fischer-Appelt: Ich glaube, es gibt eine neue Generation von Führungspersönlichkeiten, die hoch qualifiziert sind und ihre Sache genau richtig machen, aber persönlich sehr zurückhaltend agieren. Die Generation Understatement sozusagen. Leute wie Kai-Uwe Ricke von der Telekom, der diesen Tanker in der großen Imagekrise wieder auf Kurs gebracht hat. Aber auch der Wendelin Wiedeking von Porsche, der sich in eine so wunderbar widersprüchliche Rolle begibt und weiß, dass er dadurch seinem Unternehmen am meisten nützt. Oder der Daimler-Chrysler-Manager Dieter Zetsche, der die Marke Chrysler erfolgreich saniert hat. Solche Erfolgsstorys sollte man anerkennen und respektieren: Da hat mal jemand eine Nummer größer gedacht und Erfolg gehabt.
Jürgs: Es gibt auch andere Geschichten zu erzählen: Etwa die von einem Mann wie Peter Kabel, der in der New Economy als Unternehmer sehr erfolgreich war und der dann, als die Blase platzte und seine Firma kaputtging, tausend Leute entlassen hat, aber selbst mit 40 Millionen Euro rausgegangen ist. Jetzt ist er Vorstand einer renommierten Hamburger Werbeagentur. Also da habe ich mit Moral und Ethik meine Schwierigkeiten. Wenn mir die Firma gehörte, hätte ich ihn nie eingestellt.
Fischer-Appelt: Ja, ich meine, das ist zuerst nicht sauber gelaufen. Allerdings: Die zweite Chance hat er verdient wie jeder Mensch.
Jürgs: Und die tausend Leute?
Fischer-Appelt: Die haben inzwischen auch hoffentlich alle eine zweite Chance bekommen. Es hat ja keinen Sinn so zu tun, als redeten wir hier über Leben und Tod.
Unternehmenschefs können sich PR-Beratung leisten. Was ist mit den Themen, die nicht von Profis gepusht werden. Fallen die hinten runter?
Fischer-Appelt: Es gibt Themen, die keine Lobby haben. Wenn aber Menschen selbst Initiative entfalten, erreichen sie etwas. Viele Medien sind ja gerade auf der Suche nach neuen Initiativen und Bürgerbewegungen, nach lebensnahen Themen.
Jürgs: Ich meine, da sind auch die Journalisten in der Verantwortung. Wenn einer die Macht hat, wichtige Themen zu pushen, dann sollte er das auch versuchen. Ich bin da altmodisch: Ein Journalist muss an das glauben, was er sagt, er braucht einen moralischen Standpunkt, von dem aus er die Welt betrachtet, und er muss sie ändern, wo er sie verändern kann. Und manchmal muss er sogar wichtige Themen auf der Titelseite bringen, obwohl das dem Verkauf schaden könnte.
Bedienen Sie damit nicht das alte Vorurteil, dass Markt und Moral unvereinbar seien?
Jürgs: Nein. Es geht ja darum: Wie kann ich ein bedeutsames Thema so verkaufen, dass es die Menschen berührt? Es geht darum, wesentlich zu werden. Die richtigen Themen erkennen. Sie so transportieren, dass sie ein Massenpublikum erreichen. Ich bin immer dafür, vor vollen Kirchen zu predigen statt vor leeren. Dann bewege ich die Leute – das ist die Macht, die Journalisten haben. Das war übrigens genauso das Problem der frühen Journalisten, bevor es Zeitungen gab, etwa der ersten Christen: Die liefen durchs Land, erzählten Geschichten, Gleichnisse. Die Leute saßen da mit offenem Mund, waren berührt, begeistert. Die Nachricht hat sich verbreitet. Nichts anderes macht ein guter Journalist heute. Er versucht, in dieser unglaublichen Medienvielfalt mit seiner Geschichte zu packen. Und ab und zu funktioniert’s.
Bernhard Fischer-Appelt: „In der Religion geht es um Glauben und nicht um die Praxis. In der Wirtschaft ist es umgekehrt“
Herr Fischer-Appelt, braucht auch ein PR-Profi einen moralischen Standpunkt?
Fischer-Appelt: Ich glaube, dass man generell als Mensch besser fährt im Leben, wenn man einen verlässlichen Standpunkt hat – aber auch in der Lage ist, den zu hinterfragen. In meiner Branche kommt es hauptsächlich darauf an, dass man ein Gespür hat für Trends, für neue, sich entwickelnde Themen.
Beweglichkeit ist wichtiger als ein Standpunkt?
Fischer-Appelt: Man braucht jedenfalls die Bereitschaft, sich auf den Standpunkt anderer Leute einzulassen. Man arbeitet ja meist nicht zweckfrei, sondern für einen bestimmten Kunden, und dessen Inhalte und Botschaften muss man in der Lage sein glaubwürdig zu transportieren. Und das muss man auch gern tun. Wir haben früher immer Bewerber gefragt: Welche Themen würden Sie denn nicht bearbeiten? Dann kamen immer reflexartig Kernenergie, Waffen, Pharma. Aber wir haben gelernt, dass dieser moralische Standpunkt nicht viel darüber sagt, wie jemand dann einen konkreten Job erledigt. Abgesehen davon finde ich Denkverbote in der Gesellschaft ganz furchtbar. Ich glaube, dass man jeden Tag pragmatisch neu überlegen muss, ob das, was man tut, richtig oder falsch ist.
Sie vertreten eine situative Ethik. Und Sie, Herr Jürgs, eine Ethik der Grundsätze?
Jürgs: Ja, es gibt solche Grundsätze. Neben Unbestechlichkeit, Unparteilichkeit und dem Streben nach Wahrhaftigkeit zählt dazu für mich auch das Gebot, engagiert zu sein. Es gibt Momente, wo der Journalist gefordert ist: Deine Rede sei ja, ja, nein, nein, alles was dazwischen liegt, ist von Übel, wie wir aus der Bibel wissen. Ich glaube sogar, dass es Situationen gibt, da gehört ein Journalist nicht an den Schreibtisch, sondern auf die Straße. Wenn ich in der Sächsischen Schweiz leben müsste, was Gott verhüte, wo die Neonazis bei fast zehn Prozent sind – und das soziale Biotop ist ja noch größer –, da würde ich mich nicht aufs Schreiben beschränken, sondern in die Vollen gehen und mir Einiges einfallen lassen, wie man die vorführt, und eben nicht im Sinne moralischer Kommentare, das ist langweilig, sondern: Wo kommen die her? Wer bezahlt die? Was haben sie euch versprochen? Was machen die wirklich?
Sie beide gehen in Ihren Texten wie auch hier im Gespräch mit biblischem Material um. Ist das einfach nur ein Steinbruch, den man so benutzt?
Fischer-Appelt: In der Moses-Geschichte entdecke ich einen großen symbolischen Tiefgang, ein kulturelles Muster für Veränderungsprozesse. Deshalb nutze ich das Bild der Wüstenwanderung als Symbol des Wandels, um ganz praktische Orientierung zu geben. Das heißt natürlich nicht, dass ich die Bibel entmoralisieren will. In Kirche und Religion geht es in erster Linie um Glauben und nicht um praktische Antworten, in der Wirtschaft ist es umgekehrt. Sich immer wieder neu zwischen diesen Polen zu sortieren, das finde ich spannend.
Jürgs: Ich knüpfe zum Beispiel an Figuren an: mal am Erzengel Michael mit dem flammenden Schwert, kein Wunder bei meinem Namen, mal am ungläubigen Thomas. Beides gute Rollenvorbilder für Journalisten, finde ich. Und Jesus war der beste Leitartikler aller Zeiten, gar keine Frage. Der hat solche harten Sachen verkündet, dass sie die nicht verboten haben, sie haben ihn gleich gekreuzigt.