Die Stiftung stellt die Wohnung und heuert private Pflege- und Haushaltsdienste an, in einer Wohnküche wird gemeinsam gekocht. So gut es geht wird der Charakter einer
privaten Wohngemeinschaft nachgestellt. Über seine Erfahrungen hat Scherf ein Buch geschrieben
chrismon: Sie fordern: Macht Heime zu Wohngemeinschaften! Was ist in einer WG anders als im Heim?
Henning Scherf: Es leben nicht mehr als zehn Menschen zusammen. Sie sind mitten im Leben. Meist ist eine Kita dabei. Es gibt einen Pflegemix, keinen durchgetakteten Schichtbetrieb. Angehörige und Nachbarn machen mit. Ich habe dort eine Unternehmerfrau getroffen, die sich ehrenamtlich engagiert und sagt: „Ich sitze nicht zu Hause rum.“ Sie kommt jeden Tag. Auch eine frühere Krankenschwester. Das geht nur, wenn die Gruppe klein bleibt, in die Nachbarschaft integriert ist und alles geschieht, damit das kein Heim wird.
Sind Wohngemeinschaften ein Modell für Besserverdienende?
Nicht unbedingt. Man braucht Verbündete, man kann sich zum Beispiel mit den lokalen Wohnungsbaugenossenschaften zusammensetzen . . .
. . . und hoffen, dass man einen monatlichen Eigenanteil für Miet-, Pflege- und Haushaltskosten von unter 2000 Euro aushandeln kann. Sie wohnen in Ihren eigenen vier Wänden. Was die Bremer Heimstiftung als „Wohngemeinschaft“ anbietet, ist aber eher einem Heim verwandt. Würden Sie dort einziehen?
Unsere Wohngemeinschaft mit Freunden ist mein Traum. Aber wenn uns das nicht gelungen wäre, und ich säße da mit meiner lieben Frau, und sie würde vor mir sterben, und ich wäre allein: Das hielte ich nicht lange aus. Dann würde ich in eine Wohngemeinschaft wie die der Bremer Heimstiftung gehen.
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Sie wollen mit ihrer Freundes-WG auch dann zusammenbleiben, wenn Sie selbst oder Ihre Mitbewohner dement würden. Ist das nicht utopisch?
Den Mut zu diesem Entschluss habe ich mir bei meinen Besuchen in Wohngemeinschaften für demente Menschen geholt. Es geht – wenn man denn einen Rahmen schafft, der einen davor bewahrt, vor lauter Überforderung nicht mehr weiterzuwissen. Wenn man begleitet wird durch Fachleute, Verwandte und Ehrenamtliche.
Nimmt Ihre private Wohngemeinschaft bereits ambulante Hilfe in Anspruch?
Nein. Aber zwei von uns hatten einen leichten Schlaganfall. Danach haben wir mit der Bremer Heimstiftung gesprochen. Wir fangen mit einem Alarmsystem an. Wer will, kriegt ein Bändchen mit einem Knopf und kann im Notfall den Alarmknopf drücken. Beim Einkaufen, Saubermachen und Kochen wird Hilfe nach Bedarf angeboten. Im Pflegefall reicht das Angebot von stundenweiser Unterstützung bis zur Rundumpflege. Wenn das alles nicht reicht, sind wir bereit, unser Haus der Stiftung anzuvertrauen. Die Konditionen haben wir noch nicht ausgehandelt. Das wäre wieder etwas Neues.
Was spricht für gemischte WGs anstelle von Gruppen ausschließlich für Demente?
Es ist gut, wenn jemand dabei ist, der sich vielleicht nicht mehr gut bewegen kann, aber noch einen klaren Kopf hat. Auch solche Menschen werden, wenn sie wollen, aufgenommen. In einer Wohngemeinschaft habe ich eine geistesgegenwärtige alte Frau kennengelernt, sie war moribund. Sie konnte nicht mehr laufen, sie wurde künstlich ernährt. Sie brauchte einen verlässlichen Rahmen. Sie fühlte sich aufgehoben, sie wusste viel von den Biografien der anderen. In solchen Gruppen ist es möglich, dass einer dem anderen beispringt. Da habe ich wunderbare Szenen erlebt.
An welche Szenen denken Sie?
An das gemeinschaftliche Zubereiten des Essens. Diejenigen, die nicht mehr laufen können, schälen Kartoffeln oder putzen Gemüse. Beim Essen habe ich beobachtet, wie die weniger Beeinträchtigten den anderen geholfen haben. Morgens kommt jeder, wann er will. Bei Beate Lenders – einer Schauspielerin, die ich früher angehimmelt habe und mit der ich jetzt befreundet bin – habe ich gesehen, dass sie das Brot für ihre Tischnachbarin schmiert. Sie macht kleine Häppchen, schiebt sie langsam rüber, kein Reden, sie wartet. Wenn die Nachbarin nichts nimmt, reicht sie ihr die Stückchen. Nach drei, vier Malen fängt die Nachbarin an, selber zu essen.
Bei dem, was Sie in Ihrem Buch über Beate Lenders schreiben, merkt man nicht, dass sie vergesslich ist.
Schreiben und lesen kann sie nicht mehr. Wenn sie nicht angeregt wird, verstummt sie. Dann meldet sie sich auch nicht. Dann ist sie nur bei sich, still, ich vermute, auch traurig. Man muss sie abholen mit einem Thema, das sie interessiert: Theater, ihre Rollen, Berlin, wo sie herkommt. Dann ist man mit ihr dort, wo sie sich gern aufhält.
Das gemeinsame Kochen tut den Bewohnern gut. Auch manche Heime haben es eine Zeit lang angeboten, schaffen es aber wegen der Kosten wieder ab.
Diese Erfahrung habe ich im Heim meiner Schwiegermutter gemacht. In der Wohngemeinschaft wäre es gar nicht möglich, so etwas abzuschaffen. Da gibt es keine Zentralküche, sondern die WG-Küche ist das Zentrum mit viel Platz zum Mitmachen. Und es gibt einen großen gemeinsamen Tisch, um den man sich versammelt.
Wie lange wird dort gegessen?
Um halb acht war ich der Erste, der Letzte kam um elf Uhr. Bei ihm ging das Frühstück ins Mittagessen über. Abends wird gegessen, bis alle satt sind. Manche muss man bitten, sonst essen sie nicht. Alleine mit Hauptamtlichen wäre das nicht zu schaffen. Gut, dass Angehörige und Nachbarn oft mit dabei sind.
Was haben Sie im Zusammenleben mit den dementen Bewohnern gelernt?
Ich habe differenzieren gelernt. Es gibt unendlich viele Demenzformen. Manche wissen gar nicht, dass sie dement sind. Man muss ihnen helfen. Eine Frau hat für ihren Vater Leinen durchs Zimmer gespannt, damit er nachts an den Leinen entlang den Weg zur Toilette finden konnte. Er war verwirrt, wähnte sich im Krieg im Schützengraben. Sie hat sich in diese Situation hineingedacht, das mit ihm durchgespielt und ihm so geholfen. Manche kleben Zettel an die Wand: Hast du an die Milch gedacht? Bist du auf der Toilette gewesen? Hast du schon die Zähne geputzt?
Als Sie für Ihr Buch recherchiert haben, sind Sie da bei Besuchen in Wohngemeinschaften an Grenzen gestoßen?
Ich habe erlebt, dass es auch Bedrängnis gibt, die man nicht gut aushalten kann. Mir fällt eine Frau ein, die Sportlehrerin war, 61 Jahre alt. Sie wollte mit mir immer turnen und Ball spielen. Ich bin mit ihr mal drei Stunden durchs Blockland gelaufen. Ich wollte sie müde machen, und sie hat mich müde gemacht, so körperlich fit war sie. Aber so verwirrt, dass sie kaum in die Gruppe integrierbar war.