Es war ein Akt von historischer Bedeutung: Papst Benedikt XVI. besuchte am 23. September 2011 das evangelische Augustinerkloster in Erfurt, jenes Kloster, in das Martin Luther im Sommer 1505, also vor mehr als 500 Jahren, eingetreten war, in dem er seine Mönchsgelübde abgelegt hatte und später seine erste Messe las. Im Erfurter Augustinerkloster begann damals der kirchliche Weg des Reformators. Als er fünf Jahre später von seiner Romreise zurückkehrte, voller Entsetzen über die unheilige Prachtentfaltung am päpstlichen Hof und die verweltlichte Kirche, war seine Seelenruhe endgültig dahin.
Und genau hier traf der Papst des Jahres 2011 die heutigen Kinder der Reformation, vertreten durch die Spitzen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Zunächst sprachen die Kirchenspitzen im kleinen Kreis über ökumenische Hoffnungen und Aufgaben, dann folgte ein ökumenischer Gottesdienst in der Klosterkirche, in dem vor allem Katrin Göring-Eckardt, die Präses der EKD-Synode, Papst Benedikt und der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider das Wort ergriffen.
Es war ein ungewöhnlicher Besuch, auch wenn es keine programmatischen Weichenstellungen gab. Der Besuch ist von seiner kirchenpolitischen Bedeutung durchaus zu vergleichen mit zwei anderen ungewöhnlichen Besuchen des Vorgängerpapstes: Vor 25 Jahren betrat zum ersten Mal ein Papst eine Synagoge (es war Johannes Paul II., der Ort war Rom). Und vor zehn Jahren besuchte zum ersten Mal ein Papst eine Moschee. Auch diesmal war es Johannes Paul II., es fand in Damaskus statt. Die theologische Bedeutung war jeweils sicherlich anders, doch die Erfurter Geste hat ein ähnlich großes Gewicht.
„Die Ortswahl ist eine große ökumenische Geste“, hatte Thies Gundlach, Theologe und Vizepräsident des EKD-Kirchenamts, schon vorher betont. Dieser Besuch an einer zentralen Lutherstätte und zwar wenige Jahre vor dem großen Lutherjubiläum 2017 werde uns in seiner Bedeutung erst nach und nach bewusst werden. Darüber hinaus ist er eine Respektbekundung vor dem ganzen Land der Reformation und eine Ermunterung an die ostdeutsche Bevölkerung, sich auf den christlichen Glauben einzulassen.
Dass der Papst eine neue programmatische Richtungen einschlagen würde, zum Beispiel, was die Zulassung von evangelischen Ehepartnern und wiederverheirateten Geschiedenen zum katholischen Abendmahl angeht, hatten katholische Bischöfe schon frühzeitig in Abrede gestellt. Gleichwohl äußerte Nikolaus Schneider unbeirrt im ökumenischen Gottesdienst gegenüber Papst den tiefen Wunsch: „Für uns wäre es ein Segen, den konfessionsverbindenden Ehen und Familien in absehbarer Zeit eine von Einschränkungen freiere eucharistische Gemeinschaft zu ermöglichen.“ Auch wünscht sich der Ratsvorsitzende „weitere konkrete Schritte zu mehr Gemeinsamkeit“. Zu denken wäre hier zum Beispiel an das Amt der Taufpaten: Protestanten können bislang bei katholischen Taufen leider nicht Paten sein. Und das, obwohl die Kirchen die Taufen gegenseitig anerkennen.
An einen kirchenrechtlichen Akt der Rehabilitation Luthers, die Aufhebung des Kirchenbanns, war in Erfurt schon gar nicht zu denken. So wenig wie ein Abrücken von der Äußerung in der vatikanischen Erklärung „Dominus Iesus“ von 2000, dass die katholische Kirche die einzig wahre Kirche Christi sei.
In das Pontifikat Benedikts XVI. waren bislang noch keine nennenswerten Impulse spürbar, die das evangelisch-katholische Verhältnis vorangebracht hätten. Erfurt setzte nun einen merklichen Akzent, nicht zuletzt dank klarer Worte auf evangelischer Seite. Zwar behutsam, aber eindeutig nahm der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider den Papst an die Hand: „Es ist meines Erachtens an der Zeit, im Blick auf das bevorstehende Reformationsjubiläum 2017 die Erinnerungen an die gegenseitigen Verletzungen in der Reformationszeit und der ihr folgenden Geschichte unserer Kirchen zu heilen und konkrete Wege der Aussöhnung zu gehen. Dazu möchte ich sie gerne einladen.“ Er formulierte die Bitte, „den 31. Oktober 2017 als Fest des Christusbekenntnisses zu verstehen und mit den Kirchen der Reformation zu feiern.“
In ihrem geistlichen Wort im Gottesdienst sagte Katrin Göring-Eckardt, die Präses der EKD-Synode ebenso unmissverständlich wie diplomatisch: „Zum richtigen Zeitpunkt werden wir am hellsten und besten Ort des Hauses gemeinsam und füreinander den Tisch decken, an den ER uns gemeinsam einlädt, von dem wir gemeinsam essen und trinken, was Jesus an seinem letzten Abend teilte. Nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir es können und weil wir es wollen.“
Wer nun die Initiative hat zu Gesprächen, Beratungen, Verhandlungen, Entscheidungen hat, das ist offen. Da das Lutherjubiläum 2017, das Jahr des Thesenanschlags, eindeutig ein evangelisches Gedenkfest ist, ist die evangelische Seite besonders gefordert. Aber der Papst wird sich möglicherweise gern an einem Luthergedenken beteiligen; und zwar dann, wenn es sich auf das gemeinsame Anliegen aller Konfessionen bezieht: den Glauben zu bezeugen. Die Suche Martin Luthers nach einem gnädigen Gott ist für ihn hochaktuell. Zum „ganzen Luther“ gehört für ihn dessen tiefer Glaube, und erst danach dessen Kritik am Papsttum.
Landesbischof Ulrich Fischer, der evangelische Vorsitzende des Gesprächskreises zwischen evangelischer und katholischer Kirche, hatte sich sich auf Aussagen des Papstes gefreut, dass es mit Luther keinen völligen Bruch mit der römisch-katholischen Tradition gegeben habe. Solche Bemerkungen hörte man aus dem Mund des Papstes in Erfurt nicht. Wohl bestätigte sich durch die Worte aller: Die Kirchen verbindet mehr, als sie trennt.
Ist es das, was er angedeutet hatte: „Ich könnte mir vorstellen, dass aus der Begegnung mit den Vertretern der evangelischen Kirche ein Auftrag erwächst, gemeinsam noch einige Dinge aufzuarbeiten, die uns trennen“.
Die Mehrheit der Deutschen hatte vor dem Besuch keinen entscheidenden Impuls erwartet. 53 Prozent der Befragten sagten dies nach Angaben der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. 41 Prozent der Befragten hatten sich allerdings Fortschritte in der ökumenischen Zusammenarbeit gewünscht.
Dem schob der Papst in der evangelischen Augustinerkirche deutlich vernehmbar einen Riegel vor: Wer ein „Gastgeschenk“ erwartet habe (im Sinne eines ökumenischen Zugeständnisses), der sitze einem „Missverständnis des Glaubens und der Ökumene“ auf. Benedikt wörtlich: „Der Glaube beruht nicht auf einer (diplomatischen) Abwägung von Vor- und Nachteilen. Ein selbstgemachter Glaube ist wertlos. Der Glaube ist nicht etwas, was wir ausdenken oder aushandeln. Er ist die Grundlage, auf der wir leben. Nicht durch Abwägung von Vor- und Nachteilen, sondern nur durch tieferes Hineindenken und Hineinleben in den Glauben wächst Einheit.“
Was mag wohl ein konfessionsverschiedenes Ehepaar von dieser Aussage halten, die gemeinsam in den Glauben „hineinwachsen“ wollen, aber nach dem Willen des Papstes nicht gemeinsam zum katholischen Abendmahl gehen dürfen?