Marcel Reif und Felicitas von Lovenberg
Foto: Katrin Binner
Kritik? Muss sein! Aber eigentlich wollen die Rezensentin und der Fußballkommentator, dass es schön ist. Und alles fließt
Felicitas von Lovenberg und Marcel Reif im Gespräch über Erfolg und die Kunst der Kritik.
Tim Wegner
Lena Uphoff
07.10.2010

Frau von Lovenberg, Sie bewerten Literatur. Was macht für Sie ein gutes Buch aus?

Felicitas von Lovenberg: Es muss mich packen. Manche Kollegen sagen, sie wüssten das nach drei Seiten. Oder nach dem ersten Satz. Mir geht es mit einem Buch zunächst so wie mit einer neuen Bekanntschaft: Man ist sich sympathisch. Oder nicht. Dann erst macht man sich Gedanken über Gründe. Zum Glück kann ich mir als Redakteurin die Bücher, die ich bespreche, weitgehend aussuchen - und natürlich ist es erfüllender, ein gutes Buch zu rezensieren als ein schlechtes. Der Kritiker kann schließlich nur so gut sein wie das Buch, über das er schreibt. Man darf nicht den Fehler machen, die Kritik für die eigentliche Kunst zu halten. Die Literatur ist die Kunst - die Kritik eine Form der Vermittlung.

Marcel Reif: Ich bin auch ein Vermittler. Und ich habe mit den Jahren Demut gelernt. An einem einzigen Wochenende war ich krank und konnte ein Spiel nicht kommentieren. Der Schock war, dass die trotzdem spielten. Ich kann nie besser sein als das, was da auf dem Platz passiert; und das passiert im Zweifel auch ohne mich. Wenn es mir gelingt, ein schlechtes Spiel zu erklären - gut. Aber ich kann es nicht besser und unterhaltsamer machen.

von Lovenberg: Kritik hat viel mit Handwerk zu tun. Wenn ich ein Buch habe, das in sich schlüssig ist, weil der Autor sein Handwerk beherrscht, kann ich als Leserin immer noch sagen: Es erreicht mich nicht. Trotzdem kann ich sehen, dass der künstlerische Anspruch da ist und verdient, gewürdigt zu werden.

Reif: Ich muss auch bei einem 0:0 das Handwerk der Trainer würdigen. Für Trainer ist ein 0:0 das beste Ergebnis. Zwar sind beide sauer, weil sie nicht gewonnen haben. Aber das immerhin fehlerlos. Nur:Das ist nicht das, was die Zuschauer wollen. Denen ist ein 4:4 lieber, mir auch.

von Lovenberg: Die Spieler sind doch angehalten, sich hinterher das Spiel noch einmal anzuschauen, oder?

Reif: Ja, die schauen sich Ausschnitte auf DVD an.

von Lovenberg: Und hören die Spieler Ihren Kommentar?

Reif: Ich glaube nicht. Die hören, was Familie und Berater sagen: dass ich sie wieder schlechtgemacht habe.

von Lovenberg: Es gibt diesen Satz von Walter Benjamin: "Die Nachwelt vergisst oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors." Wenn ich eine Rezension schreibe, denke ich dabei nicht an die Reaktion des Schriftstellers. Ich würde verrückt werden.

Klappt das auch, wenn Sie über Lieblingsautoren schreiben?

von Lovenberg: Was heißt Lieblinge? Es gibt Autoren, die ich sehr schätze, von denen erhoffe ich mir auch viel. Wenn sie die hohen Erwartungen dann einlösen, macht mich das glücklich. Trotzdem muss man sich eine Distanz bewahren, und wo man das nicht kann, sollte man die Rezension an andere abgeben. Gefälligkeitsbesprechungen verbieten sich. Ich würde ja auch nicht vorher eine E-Mail an einen Autor schreiben: Tut mir leid, Ihr Buch hat mir nicht gefallen.

Reif: Bei Ihnen gibt es diese schöne Schleuse: Sie sind allein mit dem Buch. Niemand hört Ihrem Denken zu. Also haben Sie immer eine Distanz. Mir hören viele zu, manchmal Millionen. Dann kann ich junge Spieler mit einem Lob für mich einnehmen, auch wenn sie ahnen, dass ihre Leistung eigentlich nicht gut war. Jeder will gelobt werden. Aber ich habe nie den Drang gehabt, mich zu sehr zu nähern. Gar nicht eines hehren Berufsethos wegen, sondern weil es für alle leichter ist. Sicher gibt es Spieler, über deren Entwicklung ich mich freue. Wie Bastian Schweinsteiger. Aber wenn er schlecht spielt, habe ich kein Problem, das zu sagen. Ich will nur ein schönes Spiel, das man wie ein tolles Buch durchrattert, von A bis Z.

Üben Vereine Druck auf Sie aus, damit Sie einen bestimmten Club in ein gutes Licht stellen?

Reif: Das hat sich gelegt. Bei Fans ist es anders. Der Fan will nur gewinnen, der ist blind vor Liebe und Wut. Aber wenn ich heute in München Ärger von den Fans bekomme und übermorgen auf Schalke, habe ich nicht so viel falsch gemacht.

Hat sich das Publikum für Literatur verändert?

von Lovenberg: Weniger das Publikum als die Literatur selbst. Das Niveau ist enorm gestiegen. Es gibt mehr Bücher, die gewissen Grundkriterien genügen, die ihre Geschichten so weit gut erzählen. Das heißt aber nicht, dass es mehr bedeutende Literatur gibt. Verändert hat sich auch das Leseverhalten: Die Kluft zwischen den wenigen Bestsellern, die sich rasant verkaufen und mit denen die Verlage Geld verdienen, und dem Gros von zum Teil sehr guten, anspruchsvollen Büchern, auf denen die Buchhändler sitzenbleiben, wird immer weiter.

Wenn Bestseller so wichtig sind, muss der Druck auf Sie ja groß sein, mit guten Kritiken Bestseller zu ermöglichen.

von Lovenberg: Die Verlage halten sich zurück. Den Druck mache ich mir selbst, und das ist auch der einzige Druck, der zählt. Natürlich möchte man mit einer begeisterten Besprechung Leser für ein Buch gewinnen. Die größte Herausforderung aber besteht darin, einem komplexen literarischen Werk in der notwendigen Kürze und Verknappung eines Artikels gerecht zu werden. Wenn sich dann jemand auf eine Rezension hin das Buch kauft, sei es, weil er meinem Urteil traut oder weil er sich eine eigene Meinung bilden will, hat der Artikel seinen Zweck erfüllt.

Reif: Ich bin überrascht: Es gibt weniger literarischen Schrott, und das Grundniveau hat sich erhöht. Weil das Publikum es erzwungen hat?

von Lovenberg: Nein. Verlage und Autoren arbeiten professioneller. Man könnte auch sagen: marktorientierter. Es gibt auch in Deutschland immer mehr Creative-Writing-Kurse, also mehr Anleitung, wie man ein handwerklich solides Buch schreibt.

Was ist wichtiger - Professionalisierung oder Talent?

von Lovenberg: Wirklich große Kunst ist immer einzigartig und kommt nicht aus der Schreibschule oder Marketingabteilung. Also ist Begabung alles?

von Lovenberg: Nein. Aber ohne Begabung sind Wille, Fleiß und Ausdauer zu wenig. Literatur entsteht, wenn das einzelne Werk das Potenzial hat, größer zu sein als der Mensch, der es geschrieben hat. Kunst ist immer auch ein Wunder und nicht herstellbar. Die Formulierung "gut gemacht" ist für mich darum kein Lob. Wenn sich etwas wie gemacht anfühlt, ist genau das der Unterschied zur großen Kunst, die immer etwas Unangestrengtes hat.

Reif: Es ist kein Zauber.

von Lovenberg: Genau. Aber wenn der Zauber passiert, verwandelt ein Buch mich als Leser. Dann greifen Standardkriterien zu kurz. Weil das nicht so oft geschieht, begegnet uns große Literatur auch nicht ständig.

Was macht ein Fußballspiel zu einem zauberhaften Spiel?

Reif: Wenn es wieder infantil wird. Meine kleinen Söhne und ihre Freunde: Die wollen gewinnen - und nicht die anderen daran hindern, zu gewinnen. Das geschieht ohne Überlegung. Das ist Intuition, Begabung, das ist hemmungsloser Enthusiasmus.

von Lovenberg: Sie meinen: Wenn es fließt?

Reif: Ja, aber solche Spiele gibt es selten. Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko, Brasilien gegen Frankreich. Hinreißend! Weil es Spieler mit überbordender Begabung waren. Die gingen aufeinander los, nach dem Motto: Ich zeig dir was, du zeigst mir was. Natürlich muss diese Begeisterung in professionellen Bahnen laufen. Die Abwehr gehört dazu, und Laktattests für die Spieler auch. Aber große Spiele brauchen immer diesen Gedanken: Lasst uns große Jungs sein.

von Lovenberg: Toll! Alles, was Sie sagen, ist für jeden Fußballfan unmittelbar anschaulich. Die Codes, die Sie verwenden, werden von Millionen verstanden. Diese Transparenz ist in der Literaturkritik schwieriger herzustellen. Natürlich kann ich mich auf einen Kanon beziehen, kann sagen: Das erinnert mich an X, hier sehe ich Einflüsse von Y. Aber das Publikum, das all diese Verweise, alle Codes versteht, ist kleiner geworden. Eine Sendung wie das Literarische Quartett könnte es heute wohl nicht mehr geben. Nicht nur, weil es keinen zweiten Marcel Reich-Ranicki gibt, sondern weil es weniger Menschen gibt, die sich sagen: Ich setze mich anderthalb Stunden vor den Fernseher, ich kenne zwar keines der Bücher, über die da gesprochen wird, aber ich finde die Auseinandersetzung darüber wichtig. Vergleiche zu ziehen, bei denen jeder sagt: Ah, hab's kapiert - das wird in der Literatur schwieriger.

Reif: Und das finden Sie nicht gut?

von Lovenberg: Es macht die Sache einsamer. Aber das klingt so kulturpessimistisch, und das will ich nicht sein. Schließlich habe ich hoffentlich noch viele Jahre in dieser Branche vor mir.

Wie sind Sie in diese Branche gekommen?

von Lovenberg: Über die Begeisterung für die Sache. Ich bin als Einzelkind auf dem Land aufgewachsen. Außer auf dem Pferd zu sitzen, war das Lesen mein Schönstes. Bei der F. A. Z. habe ich zuerst im Ressort Kunstmarkt gearbeitet. Meine wahre Leidenschaft wollte ich für mich behalten. Wenn ein Buch zu mir spricht und es entsteht dieses Fluidum, denke ich: Deswegen bin ich auf der Welt! Das ist der göttliche Funke. Dafür bin ich dankbar. Dieses Glück will man aber nicht ausstellen, höchstens teilen. Als Frank Schirrmacher, der fürs Feuilleton zuständige Herausgeber, mich fragte, ob ich in die Literatur will, war ich baff. Das konnte niemand wissen, das war ja mein allergrößter Wunschtraum.

Reif: Wortgleich! Ich war zwölf Jahre in der Politikredaktion beim ZDF. Es gab eine bittere Enttäuschung. Ich wollte unbedingt Korrespondent in London werden, und ich wäre die ideale Wahl gewesen. Aber ich war parteilos. Mir war das ein Widerspruch, als politischer Journalist in einer Partei zu sein. Meine geheime Leidenschaft war der Sport, vor allem der Fußball. Ich kannte mich überragend aus, und das wussten auch die Sport-Kollegen, mit denen ich gelegentlich kickte. Als Dieter Kürten ZDF-Sportchef wurde, fragte er mich: "Willst du nicht zu uns kommen?" Für einen anständigen politischen Journalisten war das in den Augen der anderen ein deutlicher Abstieg. Am Anfang gab es viel Kritik. Die Leute aus der Branche hatten Schwierigkeiten mit so einem Seiteneinsteiger. Franz Beckenbauer hat "Zauberer" zu mir gesagt. Das war nicht als Kompliment gemeint.

von Lovenberg: Im Literaturbetrieb wird man eher berühmt als reich. Beim Fußball hingegen rollt mit dem Ball immer auch der Rubel. Was verändert sich dadurch?

Reif: Sehr vieles. Entscheidend ist heute: Wer die Champions League erreicht, hat 20 Millionen Euro sicher. Diese Vereine haben das Geld, ihre Mannschaften noch besser zu machen. Und wenn nichts Gravierendes schiefläuft, bleiben die oben.

von Lovenberg: Kann es der Underdog nicht auch schaffen?

Reif: Während Sie hoffen müssen, dass gute Autoren auch ihr nächstes Buch gut machen, haben Sie in der Bundesliga fast Gewissheit: Bayern München macht es gut, Bayern wird Meister. Das widerspricht dem, was Sepp Herberger gesagt hat: "Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht."

Ist das in der Verlagslandschaft ähnlich, die guten Verlage bekommen immer die besten Autoren?

von Lovenberg: Natürlich gibt es eine Reihe angesehener Verlage mit hervorragenden Autoren, die wiederum andere gute Autoren anziehen. Die Analogie zum Deutschen Meister wäre aber eher der Deutsche Buchpreis. Das Buch, das den gewinnt, verkauft sich sehr gut. Das ist schön - und gleichzeitig gemein: Die Longlist mit den 20 Büchern, die um den Titel Bester deutscher Roman des Jahres konkurrieren - und das ist keine Konfektionsware! kommt im August. Mitte September folgt die Shortlist mit noch fünf Titeln - nur die verkaufen sich dann noch. Und wenn der Preis vergeben ist, verkauft sich praktisch nur noch dieser eine Roman. Schade ist nur, dass die Aufmerksamkeit der Leser sich dann überproportional stark auf dieses eine Buch konzentriert.

Reif: Sagen Sie sich eigentlich manchmal: Ach, ich mag heute nicht lesen?

von Lovenberg: Meine Lesefreude habe ich mir zum Glück erhalten. Und wie ist das bei Ihnen? Als Chefkommentator können Sie sich doch bestimmt das schönste Spiel aussuchen.

Reif: Nicht ganz. Im Frühjahr spielte Barcelona gegen Arsenal London. Das klingt wie Champagner! Zeitgleich spielten die Bayern, da hat mich die Redaktion eingebremst. Weil wir gegen Sat1 sendeten, musste ich das Bayern-Spiel besetzen. Der Zuschauer erwartet, dass ich das mache.

von Lovenberg: Unsere Leser nehmen eher wahr, was die Redaktion macht und welche Besprechungen wir nach außen geben. Wenn ein neuer Walser erscheint oder ein neuer Kehlmann, sähe es seltsam aus, wenn die ein freier Autor rezensiert. Aber was ich gern noch von Ihnen wüsste, Herr Reif: Wie wichtig ist Ihnen Polemik? Wir reden so gesittet über Kritik, aber Kritik tut doch auch weh.

Reif: Nach meiner Definition ist Polemik keine saubere Geschichte. Polemisch sein bedeutet: Ich mache mir Luft. Manchmal ertappe ich mich dabei - und finde es nicht gut. Vor allem, wenn ich mich reinsteigere - wider besseres Wissen und manchmal wider die Zeitlupe. Ich versuche dann, mich in die Analyse zu flüchten. Aber ich muss aufpassen, dass ich nicht nur deshalb polemisch werde, weil ich das Schöne will. Besagtes Spiel Barcelona gegen Arsenal London: Das kommentierte ein Kollege, Lionel Messi machte drei Tore. Fantastisch! Der Kollege schrieb mir eine SMS. "Schöne Grüße aus Messihausen! " Daraus entstand fast eine Lebenskrise, weil ich merkte: Ich will nur das Gute haben.

von Lovenberg: Früher sagte man, Kritik sei eigentlich Hass, und der wahre Kritiker werde an der Polemik gemessen.

Reif: Hass? Ich bin larmoyant. Wenn meine Lieblingsspieler erkennbar unter ihren Möglichkeiten bleiben, bin ich persönlich zutiefst beleidigt und betroffen.

von Lovenberg: Eine Polemik, die nichts begründet, bringt niemanden weiter, und mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, ist unsouverän. Ich finde, die Verhältnismäßigkeit von Anlass und Urteil sollte gewahrt werden. Wenn man mit einem Buch nicht klarkommt, kann das ja auch mal an mir als Leserin liegen. Überhaupt muss man sich auch zurücknehmen können, das sehe ich wie Sie. Ein guter Kritiker braucht immer auch ein gesundes Maß an Selbstkritik. 

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