Ein ausgeprägter Sinn für Neues
Hier nehmen sich Politiker Zeit, Unerdenkliches zu denken. Die Evangelischen Akademien habe einige Veränderungen beflügelt
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
Tim Wegner
07.10.2010

Herr Anhelm, erzählen Sie einmal eine Erfolgsgeschichte der Evangelischen Akademien!

Stichwort "zivile Konfliktbearbeitung". Aus fünfzehnjähriger Arbeit der Evangelischen Akademie Loccum erwuchs etwas sehr Konkretes: Beim Auswärtigen Amt entstand ein Zentrum für internationale Friedenseinsätze, wo Menschen für zivile Aufgaben in Krisengebieten geschult werden. Dieses Konzept verbreitet sich inzwischen international weiter und weiter. Eine weitere Geschichte, unter vielen anderen herausgegriffen: Die Akademie der Pfalz hat ein hohes Renommee beim Thema Bioethik, nicht zuletzt zum Aspekt Embryonenschutz. Ihr Erfolg: Sie werden von vielen Seiten wegen ihrer Fachkenntnisse zurate gezogen.

Warum brauchen wir Evangelische Akademien?

Sie sind eines der Aushängeschilder der Kirche in unserer Gesellschaft. Sie sind eine Investition in die politische Kultur. Wer eine öffentliche Kirche will, braucht Evangelische Akademien.

2000 Tagungen pro Jahr, verteilt auf fünfzehn Akademien: Was sind da die Renner?

Es sind Tagungen zu ganz konkreten gesellschaftlichen und politischen Problemen, zum Beispiel zum Thema Hartz IV - mit all denen, die damit zu tun haben: von den Arbeitsagenturen über die Kommunen bis hin zu den Anbietern von Fortbildungen oder privaten Vermittlern. In dieser Form treffen sie sonst nie aufeinander. Oder das Thema Jugendkriminalität: Auf einer Tagung kommen Richter, Elternverbände, Lehrerinnen und Lehrer, Polizisten, Streetworker zusammen. Und was besonders schön ist: Aus einer Tagungsreihe zu diesem Thema sind örtliche Komitees hervorgegangen, die sich weiter mit der Jugendkriminalität beschäftigen und soziale Projekte durchführen.

Mit welchem Thema können Sie mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern?

Würde ich das Thema "Stand der Aufklärung in Europa heute" ausschreiben, müsste ich mangels Interesse die Tagung absagen.

Es sei denn, dass Sie auch Muslime einladen.

Selbst dann. Grundsatzthemen haben heute keine Konjunktur. Aber das kann sich wieder ändern.

Gibt es dafür bereits Anzeichen?

Zum Beispiel bestimmen Religion und Politik ihr Verhältnis neu. Das hat auch mit dem Bedeutungsgewinn des Islam in Westeuropa zu tun. Die These erweist sich als überholt, dass sich Religion mehr und mehr in den Privatbereich abdrängen lässt.

Akademien sollen, so heißt es bisweilen, "protestantische Milieus auf Zeit" schaffen, denn die traditionellen kirchlichen Milieus existieren nicht mehr. Kann das funktionieren?

Wir sind keine Milieuhüter, aber wir sprechen bestimmte Milieus an. Das sind nicht unbedingt kirchliche. Wir sprechen die Verantwortungs- und Funktionselite in der Gesellschaft an, quer durch alle Ebenen: von der kommunalen und der Länderebene über die Bundesebene bis zu internationalen Organisationen. Dazu zählen auch die NGOs, Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Weniger vertreten ist hier das alte bildungsbürgerliche Milieu.

Also stimmt das Klischee gar nicht?

Nein, unsere Teilnehmerlisten zeigen ein anderes Bild. Das ist allerdings auch nicht das Milieu der Kerngemeinde.

Wann werten Sie eine Tagung als Erfolg?

Wirklich erfolgreich ist sie, wenn sie folgenreich ist. The conference goes on when you go off.

Nennen Sie drei zentrale Aufgaben der Akademien!

Dialog, Diskurs, Vernetzung. Damit meine ich: den Gedankenaustausch von Menschen unterschiedlicher Positionen, das Streitgespräch - heute meist über konkrete Politik -, das Zusammenkommen der Akteure aus unterschiedlichen Berufsfeldern.

Fehlt da nicht der Punkt: gepflegte Streitgespräche über die großen Utopien?

Die großen Utopien sind ein Thema von gestern. Die großen emotionalen Streitthemen finden sich heute im interreligiösen Dialog.

Gerade den Streit zwischen den Religionen muss man auf einer emotionalen Ebene bearbeiten. Dafür brauchen Sie Zeit. Wir tun das in einer Sommerakademie von einer Woche Dauer. Massiven Streit gibt es auch beim Thema Umbau der Sozialsysteme. Da geht es um Organisationsfragen, aber auch um Fragen der sozialen Gerechtigkeit.

Wie geht das - emotionale Konfliktbearbeitung?

Es geht darum, einmal ernsthaft die Perspektive zu wechseln. Die Argumentation vom anderen her verstehen: Wenn das gelingt, sind das Sternstunden der Akademiearbeit.

Ein Beispiel!

Eine muslimische Theologin referiert über die christliche Trinitätslehre und ein christlicher Theologe über die muslimische Einstellung zur Trinität. Da konnten Sie eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Später wurden beide gefragt, wie sie sich dabei fühlten: Die Muslima fühlte sich schlechter als der christliche Theologe. Diese Rolle hatte sie wohl an die Grenze zur Blasphemie gebracht.

Der muslimische Religionsunterricht in Niedersachsen wäre ohne die Akademie wohl nicht zustande gekommen...

Wir haben die muslimischen Verbände, das Kultusministerium, die Kirchen, Verfassungsrechtler und Theologen an einen Tisch gebracht. Das Ergebnis der Konsultation war praktisch die Tagesordnung des ersten Runden Tisches, der zur Einführung des Unterrichts führte. Inzwischen ist der Unterricht in der Erprobungsphase. Es ist der einzige Unterricht nach Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes: Er ist gleichberechtigt mit dem Religionsunterricht der Kirchen.

Hätten die Fachleute sich nicht woanders treffen können?

Unser Vorteil als Akademie war: Wir hatten Erfahrungen im Umgang mit den muslimischen Verbänden. Es gab eine Vertrauensbasis zu ihnen wie auch zum Kultusministerium. Die Landesregierung hatte zwar mehrmals muslimischen Religionsunterricht angekündigt, aber noch nicht mit den Verbänden gesprochen. Nun kam der Anstoß zu den Gesprächen von uns.

In den 80er, 90er Jahren hieß es, mit Schülern kann man in Akademien nicht arbeiten...

In der ganz frühen Zeit der Akademien hatte es große Schülertagungen gegeben, von denen noch heute Menschen sprechen. Einige Zeit lang waren diese aus der Mode. Inzwischen kehrten sie zurück und wurden sehr beliebt. Da gibt es Tagungen zur internationalen Politik, zu aufsteigenden und absteigenden Mächten, aber auch zur Person Jesu.

Das religiöse Wissen der Kinder und Jugendlichen ist über die Jahre dramatisch geschrumpft. Sehen Sie sich da in der Pflicht?

Eindeutig ja. Deshalb machen wir hier auch eine Kinderakademie - für Kinder und ihre Eltern oder Großeltern, ihre Paten oder sonstigen Verwandten und Freunde. Das hat in der Evangelischen Akademie Hofgeismar angefangen, wir in Loccum haben sie übernommen. Da sind die Häuser voll. Sechs- bis Zwölfjährige reden auch über Naturwissenschaft und Mathematik. Oder sie decken einen Mord im Kloster auf. Zunächst hören die Erwachsenen nur zu. Was mich berührt: Nicht selten sind die Erwachsenen in einem so engen Kontakt zu ihren Kindern, wie sie ihn im Alltag kaum erleben.

Es gibt mehr Projekte mit ausländischen Institutionen, mehr Dialog der Kulturen und Religionen, mehr Teilnehmer aus aller Welt. Wohin geht der Weg?

Der Trend ist klar: In den nächsten zehn Jahren wird die Herausforderung, internationale Tagungen auszurichten, noch stärker werden. Es passiert schon heute, dass wir unter 90 Gästen eine Gruppe von 30 Nigerianern haben.

In Ostdeutschland gibt es bereits in der zweiten und dritten Generation immer weniger Bindung an die Kirche. Können die Akademien, wie es die erklärte Absicht ist, das Gespräch mit den Kirchenfernen wieder aufnehmen?

Es gibt fünf Akademien im Osten. Sie haben es geschafft, aus dem stark kirchlich bestimmten Raum der Akademiearbeit während der DDR-Zeit in die breitere Gesellschaft hineinzuwirken. Eine Meisterleistung. Der Brückenschlag zu den Kirchenfernen funktioniert. Er funktioniert, weil sie niedrigschwellig und direkt angesprochen werden. Die Ansprache geht über Themen, die den Menschen auf den Nägeln brennen, so zum Beispiel die Wirtschaftslage oder der Ausbau der Elbe.

Hat die "Renaissance des Religiösen" den Akademien in die Hände gespielt?

Noch wenig. Es gibt diese sogenannte Renaissance des Religiösen - aber sie ist nicht immer kirchenbezogen.

Mussten Sie schon einmal eine Tagung aufgrund des Drucks von außen absagen?

Ich selbst habe deshalb noch nie eine Tagung abgesagt. Jedoch gibt es solche Versuche, wenn auch nicht von kirchlicher Seite. Ich erinnere mich an eine Tagung mit Vertretern der Kriegsgräberfürsorge und der Gedenkstättenarbeit. Eine Reihe von Anrufern forderte, die Tagung abzusagen. Das haben wir nicht getan. Wenn wir eine solche Tagung absagen, könnten wir die Akademie irgendwann schließen. Die Kritiker kamen dann doch zur Tagung und sie endete mit dem Wunsch, bald eine weitere zu machen. Eine Folgetagung zum aktuellen Thema "Soldatentod" steht bevor. Solche Auseinandersetzungen gibt es immer wieder. Da muss man eben ein bisschen hart näckig sein.

 

Egon Bahr, Jahrgang 1922, Architekt der "neuen Ostpolitik" der sozial-liberalen Koalition, erfand den "Wandel durch Annäherung"

"Mein Diskussionsbeitrag , Wandel durch Annäherung' 1963 in Tutzing wird von vielen als Startsignal der 'neuen Ostpolitik' gesehen. Aber eigentlich war es Willy Brandt, der eine große, bis heute bemerkenswerte Rede über seine Ideen zur Ostpolitik hielt. Auch Franz-Josef Strauß sprach. Ich nahm anschließend nur einen Punkt aus der Brandt-Rede auf: die deutsch-deutschen Beziehungen. Zu unserem größten Erstaunen ging die fabelhafte Rede Brandts in den Medien unter. Wellen warf meine Rede, die Brandt übrigens im Flugzeug von Berlin nach München gelesen und gebilligt hatte. Meine Kernaussage: Wenn man etwas von der anderen Seite will, muss man sich ihr zuwenden. Jede Politik zum direkten Sturz des Ostberliner Regimes sei aussichtslos. Mit denen in Ostdeutschland zu verhandeln und Verträge zu machen, galt aber vielen als Tabubruch. Es gab empörte Reaktionen. Selbst in der SPD brach eine heftige Diskussion aus. Herbert Wehner hielt das Konzept für 'baren' Unsinn. Hätte Brandt nicht seine Hand über mich gehalten, wäre ich aus der Politik ausgestiegen und in meinen Beruf als Journalist zurückgekehrt. Konrad Adenauer war zwar dort, aber an diesem Tag nicht mehr anwesend. Er hatte auch nicht mehr das politische Gewicht, drei Monate vor seinem Ende als Kanzler."

Gert Ueding, Jahrgang 1942, Rhetorikprofessor an der Universität Tübingen, früherer Assistent des Philosophen Ernst Bloch

"Bad Boll im Februar 1968: Rudi Dutschke hatte verschlafen. Den Flieger verpasst. In Bad Boll waren die Zuhörer enttäuscht, dass er wohl nicht käme. Aber er kam, und die Diskussion darüber, ob Deutschland eine Revolution braucht, konnte stattfinden.

Ich war vorher ganz schön verhalten; mal gucken, dachte ich nur. Auf dem Podium saßen neben Dutschke mein damaliger Chef, der Philosoph Ernst Bloch, dann der Theologe Wolf-Dieter Marsch, der Universitätsdirektor Werner Maihofer und der Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim. Was niemand geahnt hatte: Das Gespräch geriet zu einer Sympathieveranstaltung für Rudi Dutschke.

Natürlich war er ein Agitator. Aber so, wie er im Fernsehen erschien - regelrecht fanatisch -, wirkte er in Bad Boll überhaupt nicht. Er war charmant, ein herausragender Rhetoriker, und was alle Anwesenden - bis auf Flechtheim - faszinierte, war seine echte Empörung über politisches, soziales Unrecht. Zum Beispiel den Krieg in Vietnam. Dutschke war glaubwürdig, keine redende Funktionärsmaschine. Wir waren atemlos von dem, was da vor uns passierte. Für die Studentenbewegung bedeutete es eine Öffnung zu wichtigen Vertretern des linken sozialistischen Denkens wie Ernst Bloch.

Umgekehrt begegneten die Professoren auf dem Podium ihrem Publikum, das ihnen bisher ferngeblieben war. Man sah Gemeinsamkeiten, war sich sympathisch. Nach der Tagung fuhr ich mit Ernst Bloch und seiner Frau Carola im Auto zurück nach Tübingen. In die Provinz. Aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, ich sei abgekoppelt von den Geschehnissen in den großen Universitätsstädten. Ich war bestärkt: es lohnt sich zu diskutieren.

Politische, intellektuelle oder philosophische Diskussionen auf diesem Niveau gibt es heute leider nicht mehr. Es fehlen die Kontrahenten, die großen Figuren. Die Talk-Runden im Fernsehen haben die Funktion der Akademien übernommen, wenn auch wesentlich schlechter: Themen dienen nur der Unterhaltung. Es geht nicht mehr zur Sache, man entschärft, man spült weich."

Ulrich Nembach, Göttinger Theologieprofessor, über die umstrittene Südafrikatagung in Hofgeismar

Januar 1975. In der Evangelischen Akademie Hofgeismar geht es um das politische Streitthema Nummer eins: die Apartheid in Südafrika und die wirtschaftliche Verflechtung Deutschlands mit diesem Land. Streit liegt in der Luft, und dem geht die Akademie nicht aus dem Wege. Sie lädt mit dem afrikanischen Theologen Gabriel Setiloane, einem Methodisten aus Botswana, einen entschiedenen Apartheidsgegner ein, der von einem Dutzend entschlossener Kirchenaktivisten begleitet wird. Es findet sich aber auch ein Vielfaches an Anhängern der konservativen "Deutsch-Südafrikanischen Gesellschaft" ein, die einem radikalen politischen Wandel am Kap ihr beschwichtigendes Programm "Partnerschaft statt Gewalt" entgegenstellen, von anderen auch als "Politik der getrennten Entwicklung" bezeichnet.

Es folgte dann, was je nach Perspektive als "Vertreibung des afrikanischen Theologen durch rechte Christen" (so ein Medium der Berliner linken Szene) oder als erfolgloses "Umfunktionieren der Tagung durch Antiapartheidsgegner" ("Die Welt") interpretiert wurde. Setiloane verließ nach Ende seines Vortrags samt seinen Anhängern enttäuscht und verärgert die Tagung. Ein Eklat, der zu Schlagzeilen in den Tageszeitungen führte.

Ulrich Nembach, Göttinger Theologieprofessor und Jurist, war damals mitverantwortlich für diese Tagung. "Wir wollten dazu beitragen, dass in Südafrika kein Blut floss - und zwar im ganz wörtlichen Sinne", sagt er. "Wir wollten in dieser extrem angespannten politischen Lage zwischen den Weißen und den Farbigen vermitteln."

Konnte diese Tagung politisch etwas ausrichten? Ulrich Nembach: "Oh ja, wenn auch zunächst in Deutschland. Es war einer von vielen kleinen politischen und wirtschaftlichen Anstößen zu der Veränderung in Südafrika. Es ist eine unbeschreiblich beglückende Entwicklung gewesen, dass es einen friedlichen Wandel in Südafrika gab und dass später unter der Leitung von Erzbischof Desmond Tutu eine Versöhnungskonferenz zustande kam." Die Polemiken der Zeitungen findet Nembach bis heute sehr einseitig: "Wir haben nicht Partei ergriffen, und wenn, dann bewusst für die Menschen."

Dieter Senghaas, Jahrgang 1940, ist Professor für Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung in Bremen

"Anfang der 1980er Jahre war die weltpolitische Situation extrem angespannt. Der zweite Kalte Krieg spitzte sich zu, ideologisch wie machtpolitisch. Eine Sackgasse! Die Evangelische Akademie Loccum thematisierte den Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion, zwischen Nato und dem Warschauer Pakt, auch zwischen West- und Ostdeutschland. Für dieses Thema war sie in Deutschland eine der wichtigsten Plattformen.

In den vergangenen drei Jahrzehnten habe ich an 33 Loccumer Tagungen teilgenommen, meist als Referent - aber auch wenn ich keinen Vortrag halten sollte, folgte ich immer den Einladungen, denn der frühere Studienleiter Jörg Calließ war ein Garant für intellektuell und politisch aufschlussreiche Veranstaltungen.

So hatte zum Beispiel die Tagung 'Konfliktaustragung und innerer Frieden' 1983 - es ging um Nachrüstung, und Autonome hatten den Tagungsort blockiert - die Sprachlosigkeit zwischen Politikern, Militärs und Friedensbewegung überbrückt; und wie eine Hebamme die Gespräche in unserem Land revitalisiert.

1988 fand dann die Tagung 'Konventionelle Stabilität und Vertrauensbildung' statt, die mich seinerzeit am meisten beeindruckt hat: Jörg Calließ hatte es geschafft, erstmalig Spitzenvertreter aus Bundeswehr, Volksarmee und Nato zusammenzubringen, das war etwas ganz Besonderes! Zum einen, weil dieses Treffen überhaupt zustande gekommen war; zum anderen, weil es auch Reaktionen aus Washington und Moskau gab: Loccum sei der Ort, an dem faire Auseinandersetzungen möglich seien.

Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich nie von Loccum wegging, wie ich gekommen war. Jedes Mal lernte ich etwas dazu: Zum Beispiel begann ich - der Intellektuelle, der viel am Schreibtisch sitzt - durch die Gespräche mit Politikern auch deren akute praktische Handlungszwänge zu verstehen. Und ich merkte, wie luxuriös es ist, ein freier Wissenschaftler zu sein."

Sonja Süß, geboren 1957, war Leipziger Sprecherin von "Demokratie Jetzt".

Sie arbeitet als Psychotherapeutin in Berlin "Es war Frühjahr 1990, und an der Evangelischen Akademie Tutzing ging es um das Thema 'Neue Antworten auf die Deutsche Frage'. Nachdem ich Nachtdienste und andere Klinikpflichten knapp hinter mir gelassen, meine halblegale Wohnung im Abbruchhaus in Leipzig zugeschlossen, es durch die schlecht beleuchtete Stadt und den schmutzigen Hauptbahnhof zum Zug nach Westen geschafft hatte, schlief ich bald darauf tief und fest ein.

Aufgewacht bin ich erst halb beim Umsteigen in München und dann an einem Ort von so übertrieben märchenhafter Schönheit, dass ein Gefühl des Unwirklichen mich einhüllte: Ich stand am Ufer des Starnberger Sees und sah die Berge im glutroten Licht der aufgehenden Sonne. Wenn nicht ein politischer Freund aus Leipzig neben mir gestanden und mir das gemeinsam Erlebte später bestätigt hätte, würde ich es jetzt noch für einen Traum halten.

Dass dann lauter Leute dort herumliefen, die ich nur aus dem Westfernsehen kannte, trug auch nicht gerade dazu bei, dass sich mein Realitätsgefühl wiederherstellte. Von den Gesprächen in Tutzing erinnere ich ein für mich überraschend wohlwollendes Interesse vieler kluger und bürgerlich-gepflegter Westdeutscher, zum Beispiel angenehm neugierige und ein Gespräch anregende Fragen von Richard von Weizsäcker.

Und bin ich dort nicht auch Willy Brandt begegnet und konnte ihm sagen, wie erleichternd und bewunderungswürdig wir seinen Kniefall in Warschau fanden?" Uta Zapf, Jahrgang 1941, Expertin für internationale Politik der SPD-Bundestagsfraktion, Türkeispezialistin ihrer Partei

Noch bevor die Tagung eröffnet war, stand das Urteil der türkischen nationalistischen Presse fest. Die Zeitung "Sabah" kritisierte die geplante Tagung "Türkei - Ein Land sucht seinen Weg" im Juni 1999 in Loccum, die Akademie unterstütze indirekt "PKK-Lobbyisten". "Hürriyet" bemängelte, die Türkei werde dort nur als Ansammlung von Problemen gesehen. "Ich erinnere mich noch genau an die politische Stimmung", sagt Uta Zapf von der SPD-Bundestagsfraktion. "Es geschah mit der Akademie dasselbe, was ich bei unterschiedlichsten Gesprächen mit türkischen Journalisten über die Kurdenfrage und über die Menschenrechte in der Türkei erlebte: Wir wurden massiv verunglimpft, wurden als Anhänger der PKK bezeichnet. Doch vieles ist besser geworden, seitdem die deutsche Regierung erklärt hat, sie werde den EU-Beitritt des Landes unterstützen. Umso wichtiger ist, dass es solche Tagungen gibt."

Albrecht Sudermann, Jahrgang 1937, Theologe, früher leitender Beamter bei der Bundesanstalt für Arbeit

"Hier sprechen Menschen miteinander, die Interesse aneinander haben: Das ist es, was mich an den Evangelischen Akademien richtig begeistert. Im März 2007 habe ich es bei einer wirtschaftsethischen Tagung in Berlin wieder erlebt. Wenn Sie dort mit anderen ins Gespräch kommen, stoßen Sie auf Leute, die nicht erst einmal abschätzen, ob man ein Mensch von Einfluss ist, zu dem sich der Kontakt lohnt. Wirtschaftsleute, gerade wenn sie Einfluss haben, verkehren ja gern unter ihresgleichen. In der Berliner Akademie zeigte sich in der Diskussion von Wirtschaftsleuten, Wissenschaftlern, Praktikern, wofür die Wirtschaftsdenkschrift der EKD, um die es in der Tagung ging, inhaltlich steht: vernünftig miteinander umzugehen, sich gegenseitig wirklich wahrzunehmen."

 

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