"Brecht das Schweigen" - so heißt die Aufgabe, die sich der ehemalige israelische Soldat gestellt hat.
07.10.2010

Nachts holt ihn die Vergangenheit ein. Dann blickt Yehuda Shaul in ein Kindergesicht, ein sechs, vielleicht sieben Jahre altes Mädchen. Angst und Tränen stehen in den tiefbraunen Augen. Stocksteif steht es da, im Hausflur hinter der eingetretenen Tür, nur die Lippen beben. Und er, der uniformierte Soldat, Yehuda Shaul, verhaftet den Vater, stößt die Mutter zur Seite, reißt das Haus ein. Dann hört er Schreie, irgendetwas Arabisches, das sich mit dem Donnern der Granaten mischt. Dann wieder Befehle auf Hebräisch. Dann riecht er Sprengstoff, Staub , Tränengas.

Sie sind die Zukunft Israels, sie drangsalieren, sie demütigen, sie töten.

Es gab eine Zeit, da war Yehudas Welt eine andere. Da träumte er nachts von Mountainbikes, von internationalen Turnieren, vom Rausch der Geschwindigkeit. Da war er noch ein ganz normaler Junge.

Sie sind 18, 19, 20 Jahre alt. Sie sind die Zukunft Israels und werden als Besatzer ins Westjordanland geschickt. Sie befehlen, sie drangsalieren, sie demütigen, sie töten. Und sie kommen zurück, in eine Gesellschaft, für die sie gut genug waren, das Vaterland gegen Selbstmordattentäter und Aufständische zu verteidigen, die aber davon, was sie im Westjordanland tatsächlich gemacht haben, nichts hören will. Damit muss jeder Soldat selbst klarkommen.

"Als Soldaten wussten wir, wer gut und wer böse ist."

Yehuda Shaul, 26 Jahre alt, Vollbart, gedrungene Gestalt, Trekkingsandalen, Exsoldat. Eine Haarspange hält die Kippa in den kurzen schwarzen Haaren. Yehuda ist orthodox aufgewachsen, mit neun Geschwistern und ohne Fernseher, mit Thorastunden und koscherem Essen. Ein nachdenklicher Typ. Bevor er zur Armee eingezogen wurde, durchwanderte er einmal Israel, vom Kibbuz Dan ganz im Norden bis nach Eilat am Südzipfel. "Ich wollte mir ganz klar sein, wo ich stehe- und das vor der Militärzeit." Yehuda hat ein Foto, auf dem grinsen vier seiner Kameraden in die Kamera. Mit Helm und Sturmgewehr, zeigen Victoryzeichen, hinter ihnen Ruinen palästinensischer Häuser. Sie sehen fröhlich aus. Von sich selbst hat Yehuda kein Foto aus der Militärzeit. Ihn hat diese Zeit mit einem bitteren, scharfen Lachen ausstaffiert. Nichts mehr von dem Jungen, dessen größtes Problem war, dass alle Mountainbike-Turniere ausgerechnet am Samstag stattfanden. An dem Tag, an dem er in der Synagoge ist. "Klar, als Soldaten wussten wir, wer gut und wer böse ist." Yehuda feuert eine gallige Lachsalve ab. "Gab es Gerangel zwischen Palästinensern und Siedlern, gingen wir auf die Araber los."

Im Februar 2004, kurz vor dem Ende seiner Militärzeit, gründete Yehuda "Shovrim Shtika - Das Schweigen brechen". Exsoldaten, die darüber sprechen, was sie getan haben, die die israelische Öffentlichkeit darüber aufklären, was in den besetzten Gebieten eigentlich passiert - in ihrem Namen. Shovrim Shtika sammelt Belastungsmaterial gegen die Besatzung, organisiert Ausstellungen. In Videos erklären Soldaten den Alltag der Besatzung. Sie erzählen von Wetten: Wer trifft als Erster den Reifen eines vorbeifahrenden Palästinenserwagens, wer das Fenster einer Schule? Andere berichten, dass sie routinemäßig vier Kugeln in den Schädel von mutmaßlichen Terroristen schossen, um sicherzugehen, dass sie tot sind. In den Räumen hängen Fotos, die die Soldaten in ihrer Armeezeit gemacht haben: Ein Straßenzug mitten in der Nacht ist da etwa zu sehen, alle fünf Meter sitzt ein Palästinenser im Staub, die Augen verbunden, die Arme hinterm Rücken gefesselt. Ein anderes Foto ist durch ein Zielfernrohr aufgenommen, ein palästinensischer Junge, der Tauben füttert, im Fadenkreuz. Vergangenes Jahr hat Shovrim Shtika fast 3000 Besucher durch Hebron geführt. Yehuda will ihnen zeigen, wie Besatzung aussieht.

"Du musst das irgendwie hinter dir lassen"

Jeder volljährige Staatsbürger muss zum Tzahal, der israelischen Armee. Frauen 21 Monate, Männer drei Jahre lang. Hier wird die zusammengewürfelte israelische Einwanderernation zu einem Volk zusammengeschweißt. Das Militär ist im Alltag nicht zu übersehen. Für Boxershorts wirbt ein Soldat, die Erkennungsmarke am Hals baumelnd, auf hebräischen Bazooka-Kau-gummi-Comics ist Klein Joe schon mal in Uniform. Kinderspielplätze mit Artilleriegeschütz neben der Rutsche und Flak neben der Schaukel. Einstellungskriterium für einen Aushilfsjob im Eisladen: "Nur nach dem Militär." Einen Zivildienst gibt es für Männer nicht. Verweigerer, sogenannte Refuseniks, müssen sich vor einem Gewissenskomitee der Armee erklären. Ein Militärgericht entscheidet dann über die Strafe - bis zu drei Jahre Haft. Nach dem Militärdienst nehmen sich die meisten ein Jahr Auszeit, reisen nach Südamerika, Indien oder Thailand, viele nehmen Drogen. "Du musst das irgendwie hinter dir lassen", sagt Yehuda. "Du musst irgendwie das Schweigen aufbauen, mit dem du deine Erfahrungen zudeckst."

Hebron. "Al Khalil" nennen sie die Araber, die heilige Stadt. Hier, eine knappe Autostunde südwestlich von Jerusalem, liegt hinter drei Checkpoints das Grab Abrahams, des gemeinsamen Urvaters der Juden, Christen und Muslime. Hebron ist die größte Stadt im Westjordanland und die einzige, in der sich jüdische Siedlungsblöcke mitten im palästinensischen Stadtkern breitmachen. 500 Soldaten sorgen für die Sicherheit von rund 500 Siedlern. In der israelischen Bevölkerung sind die Siedler verhasst, und die von Hebron gelten als die radikalsten. Hebron ist Sinnbild für den Irrsinn und die Grausamkeit der israelischen Besatzung. Ausgelieferte Menschen stehen sich hier gegenüber. Palästinenser, für die Erniedrigung und Gewalt zur Routine gehören. Junge überforderte Soldaten, die vor kurzem noch die Schulbank gedrückt haben und auf einmal Ausgangssperren durchsetzen sollen. Ganz normale Teenager, die plötzlich über Menschen befehlen: Ausweis! Tasche auspacken! Nach Hause!

Es war kurz nach der Grundausbildung, als Yehuda das erfasste, was er heute den "Mechanismus der Armee" nennt, eine Spirale nach unten, eine Rechtfertigungsmaschine: "Es war kalt, regnete, es gab zu wenig zu essen. Alles nur aus Dosen - und selbst davon zu wenig." Eine große israelische Bank spendete Socken und Rucksäcke. Es ist der blaue Rucksack, den er auch heute auf dem Rücken hat. "Es geht verdammt schnell, dass du dich selbst auf die Opferseite platzierst. Und dann teilst du aus. Deine Entschuldigung ist der, der noch schlechter ist als du. Ich habe einem Palästinenser seinen Autoschlüssel weggenommen? Ja gut, aber die anderen haben doch ein Auto mit dem Transportpanzer überrollt. Ich habe einen zwölfjährigen Jungen drei Stunden in Arrest genommen? Immer noch besser als der, der immer gleich ballert. So geht das mit allem: Tränengas, Gewahrsam, Checkpoint - immer findest du einen, der schlechter ist als du." Wenn Yehuda Einspruch erhob, etwa als ein Kommandant bei der Patrouille Reizgas auf Vorschulkinder abfeuerte, die auf dem Balkon Wassermelone aßen, dann tätschelten ihn die Kameraden: "Komm, geh Bonbons verteilen an die Araber, die am Checkpoint warten."

40, 50 Granaten. Jede Nacht.

Yehuda war 14 Monate in Hebron stationiert. Auf dem Dach einer arabischen Grundschule begann seine Armeezeit. Ein dreistöckiges Gebäude aus ockerfarbenem Sandstein. Heute steht Yehuda wieder dort. Er deutet auf die Tarnnetze, die den Balkon verdecken: "Über mir die Sterne, vor mir Sandsäcke, die das Stativ meines Granatwerfers halten." Es gehe darum, die Araber einzuschüchtern, wurde ihm noch erklärt, sie zu warnen. Dass man schießen könne. Jederzeit. Und dann wurde er hingesetzt. Yehudas Arm deutet den Hügel hinab, er murmelt die Codenamen: "Nylonfabrik, Würfel, Dreifenster, Post." Jeder Name ein evakuiertes Haus, Ziel seiner Granaten im dicht besiedelten Gebiet. Das erste Mal hatte er Angst, da betete er, niemanden zu treffen. "Aber schon nach ein paar Nächten war es ganz normal. Mir war kalt, ich war müde, der Kopf war leer. 40, 50 Granaten. Jede Nacht." Yehuda bleibt bei diesen Sätzen ganz ruhig. Er staunt nicht mehr über das Tempo seiner eigenen Verwandlung. Über die Macht der Routine. Zu oft hat er von anderen Soldaten dieselbe Geschichte gehört. "Ein Nachtsichtgerät brauchst du nicht." Yehuda bellt ein Lachen. "Du siehst ziemlich gut, wo deine Granate einschlägt. Und dann korrigierst du eben ein bisschen nach rechts oder nach links."

Zwei Monate zuvor hatteYehuda mit der gleichen Waffe noch in der Wüste geübt. Damals durfte sich im Umkreis von eineinhalb Kilometern des angepeilten Einschlags niemand aufhalten. Nylonfabrik, Post und Würfel liegen mitten in der Stadt.

Yehuda erzählt von Soldaten, die nicht mehr zurückgefunden haben ins normale Leben. Die am freien Wochenende ihr eigenes Zimmer verwüsteten, als ob es ein arabischer Gemüseladen wäre. Die im Dönerladen irgendwo in Amerika den Besitzer auf Arabisch anbrüllten, er solle sofort seinen Ausweis auf den Tisch legen.

Yehuda schlendert die Shuhada-Straße herunter, früher eine der zentralen Marktstraßen der palästinensischen Altstadt. "Hier gab es super Hummus, an der Ecke war ein Friseur, an der anderen eine Apotheke." Heute sind die türkisfarbenen Eisentore der palästinensischen Geschäfte verriegelt, die Besitzer verjagt. Über der Y Straße wehen grün-lila Fahnen: "Hebron - von damals bis in alle Ewigkeit", steht da auf Hebräisch. Es ist die Fahne der Siedler. Sie beanspruchen das Gebiet für sich. Ab und zu braust ein Militärfahrzeug vorbei, ansonsten Stille. Auf jede Tür ist ein roter Punkt gesprayt, markiert wie Bäume im Wald, die der Förster zum Fällen freigibt. Es ist ein Zeichen der Armee und bedeutet, dass das Geschäft geschlossen bleiben muss. "Egal wer Steine wirft, egal wer schuld ist - bezahlen müssen immer die Palästinenser", sagt Yehuda. Inzwischen sind drei Viertel der palästinensischen Geschäfte im israelisch verwalteten Teil der Stadt verlassen. Die Altstadt erinnere ihn an Pompeji, sagt er. Man sehe sehr gut, wie die Leute hier mal gelebt haben müssen. Wieder rasselt sein Lachen. "Nur die Menschen sind weg." So wie das Mädchen aus seinen Alpträumen. Ob und wo sie heute lebt, weiß er nicht.

"Apartheid. Israel betreibt eine Politik der Rassentrennung."

Yehuda deutet auf die Graffiti der Siedler. Überall Judensterne, die Besitz anmelden, und Schmierereien: "Araber in die Gaskammern." Als Ariel Scharon die Siedlungen im Gazastreifen auflöste, wünschten ihm die Siedler auf den Mauern von Hebron den Tod an den Hals: "Scharon, Rabin wartet auf dich." Und was sagen die Siedler über Ehud Olmert, den Ministerpräsidenten? Der hatte doch die letzten Parlamentswahlen im März 2006 mit dem Versprechen gewonnen, sich aus großen Teilen des Westjordanlands zurückzuziehen. "Olmert, die Witzfigur?" Yehudas Lachen prasselt. "Olmert ist nicht mal an den Wänden."

Im April 2003 hat Yehuda die Geschäfte der Shuhada-Straße zusammen mit einem anderen Soldaten und drei Arbeitern versiegelt. Er ging von Tür zu Tür und ließ die Eingänge zuschweißen, die Türschlösser verschmelzen. Die Szene hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Die Hitze schon im April, dazu die Stille, unterbrochen vom sengenden Geräusch des Schweißgeräts. Die Straße menschenleer, niemand, den er hätte verjagen können. Die Palästinenser hatten ohnehin Ausgangssperre. Mit einem Mal wurde Yehuda klar, was sie eigentlich taten: "Apartheid. Israel betreibt eine Politik der Rassentrennung."

Yehuda wollte nicht weitermachen

Und Yehuda wollte nicht weitermachen.

Er ließ sich zum Barackendienst einteilen, acht Stunden täglich auf einem Platz so groß wie eine Telefonzelle. Aber für Yehuda war wichtig: Er würde keine Siedler schützen, keine Palästinenser verhaften müssen. Als er mit seinem Zugführer über seine Zweifel sprechen wollte und ihm sagte, er überlege, nachträglich zu verweigern, wollte der davon nichts hören, brüllte ihn an. Kurz darauf stand Yehudas Entschluss fest. Er glaubte, es besser machen zu können, wollte den jungen Rekruten die Augen öffnen. Er meldete sich zur Ausbildung zum Kommandanten.

Die Mission vom besseren Soldatenfür ihn ist sie inzwischen gescheitert. Vorbeugende Hauszerstörungen, Granaten zur Abschreckung, Wassertanks anschießen, in die Menge ballern - all das mache als Soldat Sinn, bedeute Sicherheit und vor allem Ruhe, sagt Yehuda. "Und ziemlich schnell gewöhnst du es dir ab, weiterzufragen. Du begnügst dich mit der Logik des Soldaten und baust eine Mauer des Schweigens um dich."

Psychologen nennen es den "Abzug der Moral" - in Anspielung an den immer wieder diskutierten Abzug der israelischen Armee aus dem Westjordanland. "Kein Soldat, der solche Dienste monatelang machen muss, kann sich noch menschlich benehmen", sagt Dan Bar-On, Professor für Psychologie am Departement für Verhaltenswissenschaften der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. Bar-On spricht von einer "therapiebedürftigen Generation". Noch hielten sich die Symptome der Besatzungsschäden in Grenzen, noch deckele der gesellschaftliche Druck. "Erst in guten Zeiten werden sich die Fragen nicht mehr verdrängen lassen: Warum habe ich getan, was ich getan habe? Warum war ich da überhaupt? Und diese Soldaten werden keine gesellschaftliche Unterstützung bekommen. Alle werden vergessen wollen." Zurück bleiben Menschen mit ihrer Erinnerung, ihrer Schuld, von der niemand etwas wissen will. So müsse man auch die Statistiken lesen, sagt Bar-On: steigende Jugendkriminalität, nahezu eine Verdoppelung der häuslichen Gewalt seit Beginn der zweiten Intifada vor sieben Jahren, immer aggressiveres Fahrverhalten auf Israels Straßen, hohe Selbstmordzahlen in der Armee. "Unsere Gesellschaft ist unglaublich stark belastet." Die Besatzung zerstöre Israel von innen heraus. "Erst viel später wird man sich an die 40 Jahre der Besatzung als die schlimmsten Jahre der Geschichte des Staates Israel erinnern."

"Ich bin damit noch nicht durch."

Yehuda macht sich auf den Weg zur Busstation. Nummer 160, ein gepanzerter Koloss mit kugelsicheren Scheiben, wird ihn nach Jerusalem zurückbringen. Auf dem Weg zur Station werfen Siedlerkinder Steine nach ihm. Yehuda zieht die Schultern hoch, beschleunigt den Schritt. Bisher wurde er zweimal getroffen, einmal sogar am Kopf. Die Beschimpfungen der Siedler perlen an Yehuda ab: Neonazi, Terroristenfreund, auf dem Gehaltszettel der Hamas. Und auch diesmal brüllt einer: "Yehuda! Du hast Dutzende palästinensische Kinder umgebracht. Jetzt versuchst du, mit Gott ins Reine zu kommen, indem du dich als Freund der Palästinenser aufspielst."

Yehuda antwortet schon lange nicht mehr. Ist was dran? Bereut er? Ist sein Engagement Sühne? Wie viele Menschen hat er getötet? Yehuda kneift die Augen zusammen. "Ich bin damit noch nicht durch." Er macht eine Pause, dann sagt er: "Da fragt man nicht danach. Gutes kann da nicht herauskommen." Und er lacht wieder. Es klingt, als ob jemand nach Luft japst.

 

 

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