Alexej von Jawlensky: Meditation auf Goldgrund, 1936
Alexej von Jawlensky schuf in seiner Serie "Meditationen" menschliche Antlitze mit religiöser Symbolik
Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, Bernhard und Elly Koehler Stiftung 1965
Christentum
Das eigene Sehnen, Suchen, Fragen
Warum tun sich viele so schwer, sich zum "Christsein" zu bekennen? Die urchristlichen Fragen nach unserer Existenz, nach dem Sein und dem Vergehen, betreffen uns alle
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
14.11.2025
4Min

Was das Wörtlein "christlich" bedeutet, ist Definitionssache. Zunehmend haben Menschen damit Probleme – und zwar nicht nur, wenn sie über die Kirche oder die Kirchengeschichte urteilen, sondern auch, wenn sie ihre eigene Einstellung zur Religion auf einen Begriff zu bringen versuchen.

Häufig begegnen mir Menschen, von denen ich sagen würde, dass sie auf ihre Weise "christlich" sind, die das aber selbst nie über sich sagen würden. So richtig habe ich noch nicht verstanden, warum das so ist.

Nun hat mir vor kurzem ein Freund ein Buch seines Vaters zu lesen gegeben. Ursprünglich hat dieser 15 Stück davon drucken und binden lassen. 1972 hat sein Vater auf 175 Seiten seine Gedanken zu Grundthemen des christlichen Glaubens aufgeschrieben, seine Kritik an alten Dogmen und seine Versuche, diese neu zu fassen. Dem hat er den schönen Titel "Der Baum des Lebens. Versuch einer Einsicht" gegeben. Es dürfte schon länger niemand mehr hingesehen haben.

Einiges wirkte auf mich etwas altertümlich. Vielmehr aber hat mich fasziniert, wie intensiv sich dieser Mann, der kein Theologe war, in die Lehre und Geschichte des Glaubens vertieft hat. In Kapiteln über den Kosmos, Gott, den Menschen, den Lebensweg, das Symbol des Lebensbaums und schließlich das Gebet versuchte er, Wesentliches von Unwesentlichem, Schale von Kern zu trennen, und verwickelte den alten Glauben mit den neuen Wissenschaften.

Besonders beeindruckt hat mich, wie er im Nachwort über sich schreibt: "Mein Christentum, nach dem ich mich und auch andere immer wieder fragen musste, ist nicht identisch mit den Dogmen der Kirche. Und doch bin ich Christ, denn ich spreche der Verkündigung von Jesus für die kommende kosmische Epoche so viel sprengende Kraft zu, dass sie unter dem Zeitdruck der fortschreitenden Evolution und im Schmelztiegel teilnehmender Einsicht die alten erstarrten dogmatischen Formen auflöst und eine sehnsüchtig suchende Menschheit zum ‚Baum des Lebens‘ führen wird."

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Hier, in diesem mehr als 50 Jahre alten Privat-Buch, zeigt sich eine Fähigkeit, die heute vielen abgeht. Und dies ist ein häufig übersehener Grund für die gegenwärtige Krise des Christentums. Viele Menschen sind so weit entfernt von christlichem Leben, dass sie das eigene religiöse Fragen, Suchen, Sehnen, Erleben und Finden nicht mehr mit "Christentum" verbinden können. Dieses scheint ihnen eine abständige, dogmatisch verquere, klerikal verpeilte Angelegenheit zu sein – ein zwanghaftes Einheitsgebilde, in das sie nicht hinpassen, nicht hineinpassen wollen.

Ich, der ich nun berufsbedingt einen näheren Blick auf die Vielfalt, Lebendigkeit, Offenheit und Uneindeutigkeit des Christlichen habe, würde ihnen gern zurufen, dass sie mir auf ihre Weise als ziemlich "christlich" erscheinen. Damit will ich sie nicht kirchlich vereinnahmen, sondern ihnen nur einen Begriff anbieten, mit dessen Hilfe sie sich selbst und ihre Art zu glauben und zu zweifeln besser verstehen könnten. Von mir aus hätten sie nämlich durchaus das Recht, von je "ihrem Christentum" zu sprechen – und müssten sich dabei überhaupt nicht schämen.

Dazu passt ein Gedicht, das mich in diesem Jahr begleitet hat. Eine alte Freundin meiner Familie hat es geschrieben. In hohem Alter ist sie im Mai verstorben. Häufig hatte ich mit ihr über die Frage gesprochen oder Briefe ausgetauscht, was denn nun heute als "christlich" gelten könne, ob sie dieses Adjektiv auf sich anwenden würde und lieber doch nicht. Zu einem richtigen Ergebnis sind wir nicht gekommen.

Aber dieses Gedicht – sie hat viele schöne Verse gemacht – von Helga Ahlers, in dem sie ein bekanntes Psalmwort aufnimmt, gibt eine schöne Antwort, die viele Menschen ansprechen könnte, die zwischen dem Christlichen und dem Nicht-mehr-Christlichen hin- und herschwanken.

Ich weiß, dass meine Zeit in Deinen Händen steht,

ich weiß, dass kein Erlebnis ohne Spur vergeht,

was mir begegnet, meint nicht mich allein,

der kleinste Funke schließt den Kosmos ein.

Das ganze Sein ist wie ein Spiel von Wellen,

sie treffen mich und Dich, sind Mündungen und Quellen.

Und was ich denke, setzt sich fort in Strömen,

ewiges Spiel von Trennen und Versöhnen.

Weiß ich, dass meine Zeit in Deinen Händen steht?

Dass jeder Augenblick Schmerz und Hoffnung sät?

Wo alles sich bewegt, wie könnt ich stillestehn?

Ein jedes kleine Werden und Vergeh’n

hat seinen Sinn, wirkt in die Ewigkeit.

Ich weiß, in Deinen Händen steht auch meine Zeit.

Bin ich bereit?

Mit jeglicher Geburt wird auch ein Tod geboren,

doch nichts, was ist, geht ohne Spur verloren.

Wo komm‘ ich her? Wo geh ich hin?

Doch glaub ich an des Lebens tiefen Sinn.

Und naht das Ende meiner Zeit,

ich bin bereit.

Kein Fragen mehr, wohin die Reise geht,

Ich weiß, dass meine Zeit in Deinen Händen steht.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur