chrismon: Einige Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine haben Sie Russland verlassen. Das ist Ihnen sehr schwer gefallen.
Maria Aljochina: Ja, ich hatte nie vor, aus meiner Heimat zu fliehen. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Seit Februar 2022 haben mehr als eine Million Russinnen und Russen das Land verlassen. Um die Ukraine zu unterstützen, um nicht für Putin in den Krieg ziehen zu müssen oder einfach nur, um die Wahrheit sagen zu können. Ganz Russland ist ja ein Gefängnis geworden. Das Land wird immer mehr zum Gulag. Dass ich dort nicht mehr physisch anwesend bin, bedeutet aber nicht, dass ich automatisch frei bin. Freiheit ist nichts, das du wie eine Torte zum Geburtstag bekommst. In meinem Buch schreibe ich, dass die wahren Tore zur Freiheit - die in deinem Geist - nur von dir selbst aufgeschlossen werden können.
Maria Aljochina
Sie gehören heute zu den Stars unter den russischen Aktivistinnen und Aktivisten. Die Leute bitten Sie um Autogramme. Wie kommen Sie damit klar?
Wenn du Aktivist oder Aktivistin bist, ist die Aufmerksamkeit, die dir geschenkt wird, immer auch eine Verantwortung - für die Menschen zu sprechen, denen niemand ein Mikro unter die Nase hält.
Die Exponiertheit ist auch gefährlich. Die internationale Berühmtheit hat Alexej Nawalny nicht schützen können.
Der Westen hat keine auch nur halbwegs angemessene Antwort auf die Ermordung Nawalnys gefunden. Dass Putin seinen bekanntesten und mutigsten Gegner töten ließ, zeigt, dass es jeden jederzeit treffen kann. Ich denke über die Gefahren, die mein Engagement mit sich bringt, aber ehrlich gesagt nicht nach. Das ganze Leben ist nun mal gefährlich.
Wie Ihr erstes Buch ist auch "Political Girl" eine Montage aus Tagebuch-Eintragungen, News-Meldungen, Telegram-Nachrichten und Zitaten.
Das Montageverfahren bildet meine Denkweise ab. Seit meiner Jugend habe ich zahllose Filme gesehen. Und vieles, was meinem Umfeld und mir in Russland passiert ist, fühlt sich ja wie ein Film an. Immer wieder kam es mir aber auch so vor, dass es die Art von Film werden würde, den niemand zu Ende schauen möchte - weil er zu lang, zu repetitiv und zu quälerisch war.
Meinen Sie damit beispielsweise das Kapitel, das die Monate kurz vor Ihrer Flucht schildert?
Der Krieg hatte gerade begonnen, wir demonstrierten und wurden eingesperrt. Ich hatte das Glück, in der Haft anderen Aktivistinnen zu begegnen, die gegen den Krieg protestierten. Ich beschreibe eine junge Frau, die zum ersten Mal verhaftet worden war und nach ihrer Entlassung schockiert bemerkte, dass das Leben in Russland ganz normal weiterging. Das war ein Gefühl, das wir alle genau kannten. Wir protestierten und schrien, und es schien die Leute nicht zu kümmern. Unsere Raketen zerstören das Bruderland und alles ging einfach weiter. Es war zum Verzweifeln. Diese Gleichgültigkeit ist sehr schwer zu ertragen, aber kein Grund aufzuhören.
In Ihrem Buch taucht, für viele Leser ist das sicher eher überraschend, immer wieder der Glaube an Gott auf. Welche Rolle spielt Religion in Ihrem Leben?
Nun, ich glaube an Gott. Ich habe Probleme mit insbesondere der russischen Kirche. Die russisch-orthodoxe Kirche ist heuchlerisch, frauenfeindlich und der verlängerte Arm Putins. Umso wichtiger war es für mich, die Priester und christlichen Aktivisten, die sich gegen dieses Regime und diesen Krieg stellen, in meinem Bericht vorkommen zu lassen. Es gab einen Protestbrief, der von mehr als 100 Priestern unterzeichnet wurde. Sie mussten das Land verlassen oder gingen für ihren Glauben ins Gefängnis. Und ich erwähne Giovanni Guaita, einen bemerkenswerten Mönch, der seine Kirche für Demonstranten öffnete, die von der Polizei verfolgt und verprügelt wurden. Er solidarisierte sich später ganz explizit auf der Webseite seiner Gemeinde mit ihren Anliegen. Solche Menschen zeigen eine andere Seite des Glaubens. Die Staatskirche jedoch ist der KGB in einem anderen Gewand. Sie hat mit dem Christentum nichts zu tun.
Bekommen wir generell zu wenig von den Protesten in Russland mit?
Wie Sie wahrscheinlich wissen, gibt es in Russland eine strikte Zensur und mehr als 2000 politische Gefangene. Man darf den Krieg nicht Krieg nennen. Menschen werden verschleppt, gefoltert, ermordet. Russland ist ein totalitärer Polizeistaat. Aber selbst unter diesen Bedingungen bilden sich neue Formen des Protests heraus. Jugendliche versammeln sich und singen Lieder von Leuten wie Noize MC, der das Land verlassen musste, oder Songs aus der Perestroika-Zeit. Und dann gibt es noch Menschen wie die 18-jährige Straßenmusikerin und Bandleaderin Diana "Naoko" Loginowa. Als sie wegen "Diskreditierung der russischen Armee" ins Gefängnis kam, wurden ihre Lieder in ganz Russland durch gemeinsames Singen verbreitet. Diese über das Netz initiierten "Flashmobs" sind eine neue, fast romantische Form, sich zu widersetzen. Diese neue Generation ist aus dem Nichts aufgetaucht. Auch Putin kann eben nicht alles kontrollieren.
Woher nehmen Sie Ihre Kraft, wie halten Sie dieses atemlose Leben durch?
Es ist nicht atemlos. Es ist voller Luft. Frischer guter Luft.
Aber Sie mussten immer wieder ins Gefängnis, haben viel durchgestanden ...
Ich glaube nicht, dass ich so besonders bin. Es gibt Leute, die seit über 20 Jahren im Gefängnis sind. Viel mutigere Menschen. Und es ist ja auch sehr wichtig, dass ich diese Aktionen nie allein durchgeführt habe. Wir haben das zusammen gemacht und uns immer gegenseitig unterstützt. Auch im Gefängnis. Als sie mich in Einzelhaft steckten, bekam ich so viele Briefe und Postkarten. Ich habe mich nicht allein gefühlt. Nach zwei Monaten durfte ich Bücher bekommen, und sie haben mir Kraft gegeben. Wenn du die Memoiren von Menschen liest, die im Gulag viel Schlimmeres durchgemacht haben und dann noch die Kraft hatten, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen, macht dich das demütig.
Sie erwähnen den Dichter Ossip Mandelstam, der in den Jahren des stalinistischen Terrors wegen seiner Gedichte in den Gulag geschickt wurde und 1938 in einer Krankenbaracke starb.
Mandelstams großartiges Werk ist eine Zeitmaschine. Wenn du seine Gedichte liest, wirst du in seine Gegenwart versetzt. Als ich anfing, Gedichte zu lesen, hat sich mir eine Welt eröffnet. Gedichte sind ein Code, mit dem sich Menschen 70 oder 100 Jahre später an Orte und in Situationen beamen können.
Kommen wir auf die Gegenwart zurück. Was kann der Westen tun, um die Opposition gegen das Regime zu unterstützen?
Wir können nicht wissen, was innerhalb Russlands passiert und wann dieses Regime kollabieren wird. Aber wir können die Ukraine unterstützen und damit Putin den Mittelfinger zeigen. Nur, wenn er diesen Krieg verliert, wird er die Lust daran verlieren, andere Länder zu überfallen. Ich reise häufig in die Ukraine. Die Menschen dort brauchen unser Engagement. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um sich den Russen zu widersetzen. Und so viele unter ihnen sind bereits gestorben. Auch viele meiner Freunde und Bekannten. Wir dürfen die Ukrainer nicht allein lassen.
Maria Aljochina. "Political Girl: Pussy Riot – Leben und Schicksal in Putins Russland", Berlin Verlag, 528 Seiten, 26 Euro



