Filmtipp der Woche
Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?
Max Frischs Roman „Stiller“ wurde noch nie verfilmt. Jetzt hat der Schweizer Stefan Haupt die klassische Oberstufenlektüre adaptiert. Dabei kann er auf ein großartiges Ensemble vertrauen
James Larkin White (Albrecht Schuch) oder doch Anatol Stiller?
Studiocanal
30.10.2025
3Min

"Haben wir uns schon mal getroffen?", fragt in Stefan Haupts Film "Stiller" ein Mann, der sich als James Larkin White vorstellt. "Wir sind verheiratet", konstatiert die aus Paris angereiste Julika (Paula Beer) leicht genervt, ein wenig irritiert, aber doch sehr bestimmt. "Das wüsste ich aber!", kontert der Mann mit belustigt abwehrendem Lächeln, im Modus einer beginnenden Liebesgeschichte. Welchen Grund könnte er haben, seine Identität zu verleugnen?

Grenzbeamte, Polizisten, der Untersuchungsrichter, der Staatsanwalt, ein Pflichtverteidiger, alle versuchen, dem Rätsel mit allerlei detektivischen und psychologischen Tricks auf die Spur zu kommen. Alle wollen dem Mann eine Identität aufdrängen, die er entschieden abwehrt, und immer wieder fragt man sich, welchen Grund er haben könnte, seine wahre Identität zu verschleiern. Vertuscht er ein Verbrechen oder verarbeitet er ein traumatisches Ereignis? Flieht er vor dem Gesetz oder vor sich selbst?

© Studiocanal

"Stiller", "Biografie: Ein Spiel", "Mein Name sei Gantenbein": Immer wieder hat sich der Schweizer Schriftsteller Max Frisch in seinen Werken mit Identität, Rollenspiel und Perspektivwechseln beschäftigt. Das Kino wiederum hat eine Affinität zum Rollenspiel, ein Faible für Schwindler und Trickbetrüger – umso erstaunlicher ist es, wie lange "Stiller" unverfilmt blieb.

Dabei hat Stefan Haupt dem Grundproblem der filmischen Umsetzung so eines flirrenden Gedankenspiels auf elegante Weise ein Schnippchen geschlagen, indem er dem literarischen Vexierspiel der Identitäten eine visuelle Entsprechung gibt: In den schwarz-weißen Rückblenden wird Stiller vom Schweizer Schauspieler Sven Schelker gespielt und Albrecht Schuch übernimmt den "möglicherweise Stiller" in der farbigen Gegenwart.

Die Doppelbesetzung der Rolle führt auch für den Zuschauer ein Moment der Irritation ein; die beiden Männer sehen gerade ähnlich genug aus, um die Unsicherheit plausibel zu machen, die sich in den Gesichtszügen der Ehefrau spiegelt, denn in sieben Jahren können sich Menschen so sehr verändern, dass man sie nicht mehr eindeutig identifizieren kann.

Ist er es oder ist er es nicht? Narrt Stiller alle oder handelt es sich wirklich um einen anderen? Mit den Detektiven und Psychologen im Film gerät der Zuschauer – zumindest, wenn die Lektüre des Romans nicht allzu präsent ist – ins Rätseln und Schlingern. Dabei klingt ein fernes Echo von Patricia Highsmith und Alfred Hitchcock nach, denn immer wieder erinnert Albrechts Schuchs Larkin White an den Identitätenjongleur Tom Ripley oder auch an Cary Grant, der als harmloser Werbemann in "North by Northwest" in geheimdienstliche Intrigen gerät.

Während in Rückblenden die Künstler-Liebesgeschichte zwischen der Balletttänzerin Julika und dem Bildhauer Stiller rekapituliert wird, entsteht ganz langsam in der Gegenwart eine neue zwischen der Ballettlehrerin und dem Amerikaner, und es bereitet großes Vergnügen, mit Albrecht Schuch und Paula Beer zwei der derzeit aufregendsten deutschen Schauspieler*innen in diesem flirrenden Vexierspiel der Identitäten zu erleben.

Schweiz/Deutschland 2025 Regie: Stefan Haupt. Buch: Stefan Haupt, Alex Buresch (nach Max Frisch). Mit: Albrecht Schuch, Paula Beer, Sven Schelker, Maximilan Simonischek, Marie Leuenberger, Stefan Kurt. Länge: 99 Min. FSK: ab 12. FBW: ohne Angabe.

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