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Vor kurzem waren wir in Madrid. An vielen Balkonen hängen Palästina-Flaggen, nicht selten neben Regenbogenfahnen, ohne dass jemand einen Widerspruch wahrnehmen würde (denn die politischen Kräfte in Palästina sind nicht eben queer-freundlich). Undenkbar, dass jemand hier eine Israel-Fahne hisste.
Mich hat das nicht überrascht. Das großstädtische, linke Spanien ist seit jeher auf der Seite Palästinas. Hier ist man traditionell gegen die NATO, gegen die USA und damit gegen Israel eingestellt. In den lange Zeit unterdrückten Regionen wie Katalonien oder dem Baskenland fühlt man sich selbst einer antikolonialen Sache verpflichtet und identifiziert sich leichter mit "Widerstandskämpfern", die von anderen als "Terroristen" bezeichnet werden. Zudem kann man sich als Spanier leichter gegen Israel aussprechen, weil man keinen direkten Anteil an der Shoa hat und keine historische Schuld mit sich herumschleppt.
Nun hat die Madrider Arabistin Luz Gómez in einem bemerkenswerten Artikel in "El Pais" auf eine mir bisher unbekannte Traditionslinie aufmerksam gemacht. Die überwältigende Mehrheit der Spanier – auch der konservativen – werfen der israelischen Regierung heute einen Genozid am palästinensischen Volk vor (nur die rechtsextreme Partei Vox unterstützt uneingeschränkt die Netanjahu-Regierung, weil diese gegen Araber vorgeht). Was den wenigsten bewusst sein dürfte, ist, dass sie dabei in einer Traditionslinie zum Franco-Regime stehen.
Luz Gómez schreibt: "Francos Regime in der frühen Nachkriegszeit pflegte eine Beziehung sui generis zu den neuen unabhängigen arabischen Ländern, mit denen er in gewisser Weise das Gefühl des Unmuts über die Arroganz der kolonialen Metropolen teilte. Der Franquismus setzte eine versüßte spanisch-arabische Freundschaft in Gang, die die unangenehme andalusische Vergangenheit, die Vertreibung der Muslime im 15. Jahrhundert, bequem ausblendete. Diese ‚Partnerschaft‘ kam den nationalistischen Impulsen der postkolonialen arabischen Regime entgegen.
Im Jahr 1950 gründete Ägypten das Ägyptische Institut für Islamische Studien in Madrid, und 1954 gründete die spanische Regierung das Spanisch-Arabische Kulturinstitut. In gewisser Weise haben solche freundschaftlichen Ansätze die Gesellschaft "durchdrungen" – mit erheblichen Langzeitwirkungen. So hat Spanien – was ich nicht gedacht hätte – Israel erst 1986 als Staat anerkannt und in einer halbheimlichen Zeremonie diplomatische Beziehungen aufgenommen. Dies geschah vor allem auf Druck der Europäischen Gemeinschaft, der das demokratische Spanien beitreten wollte.
Es ist also nicht nur ein linker, antikolonialistischer Impuls, der viele Spanier gegen Israel einnimmt. Eine andere Quelle ist eine lange franquistische Tradition. Manche Leser haben sich über diese Botschaft nicht gefreut, wie viele erregte Kommentare zeigen. Man könnte an dieser Stelle tiefer schürfen und fragen, ob sich hier antisemitische Prägungen zeigen.
Auch wenn es lang zurückliegt, sollte man nicht vergessen, dass der neuzeitliche rassistische Antisemitismus in Spanien erfunden wurde. Nach der Wiedereroberung der iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert zwangen die allerkatholischsten Könige die Juden, sich taufen zu lassen (oder das Land zu verlassen). Doch blieben sie misstrauisch gegen die Neu-Katholiken. Blieben diese nicht trotz der Taufe irgendwie jüdisch? Man traute dem Sakrament nicht zu, die Identität eines Menschen zu definieren. So trat an dessen Stelle die "Reinheit/Unreinheit des Blutes", an der sich entscheiden sollte, wer als wahrer Spanier gelten durfte. Damit wurde aus dem christlichen Antijudaismus des Mittelalters der rassistische Antisemitismus der Neuzeit.
Lesetipp: Hat der Islam ein Antisemismusproblem?
Wenig bekannt ist in Spanien, so scheint mir, warum die Mehrheit in Deutschland – noch – anders denkt und fühlt. Natürlich weiß man von der Macht unseres Schuldgefühls, die viele Menschen hierzulande zu Recht deutlich vorsichtiger formulieren lässt, wenn es um Israel geht. Aber es gibt noch weitere Faktoren. Erstens haben viele ältere Deutsche sehr gute Erfahrungen mit Israel gemacht: durch Begegnungen in der Jugend (zum Beispiel durch Aktion Sühnezeichen), Arbeitsaufenthalte in Kibbuzim, Studienaufenthalte in Tel Aviv oder Lektüren israelischer Literatur. Für viele Christen waren biblische Reisen oder der jüdisch-christliche Dialog lebensprägend. "Israel" wurde so für viele Deutsche zu einem positiv aufgeladenen Namen. Aber natürlich ist mir bewusst, dass sich dies bei den jüngeren Deutschen verändert.
Ein zweiter Faktor ist die Erinnerung der Älteren an den Linksterrorismus der 1970er und 1980er Jahre. Deutsche Linksterroristen haben auf das Engste mit palästinensischen Gruppen zusammengearbeitet, wurden von ihnen ausgebildet und bewaffnet, haben mit ihnen gemeinsam gemordet. Mit dem Wort "Palästinenser" verbinden viele – bewusst oder unbewusst – die Angriffe auf die Olympischen Spiele von München oder die Entführung der Landshut. Hier wurde gezielt Terror gegen jüdische Menschen verübt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass die ersten "Selektionen" von jüdischen Menschen nach 1945 von deutschen und palästinensischen Linksterroristen vollzogen wurden. Das werden viele in Deutschland nicht vergessen.
Ein dritter Faktor ist mir noch wichtig. Ich kann ihn hier nur anreißen und werde ihn später ausführlicher darstellen. Aber was viele Spanier nicht wissen dürften – und was auch vielen jüngeren Deutschen kaum mehr bewusst ist –, ist, dass Deutschland eine besondere Erfahrung mit massenhafter Vertreibung gemacht hat. Nach 1945 wurden 15 Millionen Deutsche aus Mittel- und Osteuropa vertrieben. Die meisten siedelten sich in Westdeutschland an. Es war ein sehr langer und extrem harter Prozess. Aber er hat viele ältere Deutsche gelehrt, dass Vertreibungen sich nicht rückgängig machen lassen, ohne dass man erneut Menschheitsverbrechen begeht. Revanchismus ist nie eine sinnvolle Option. Natürlich, die Vertreibung der Deutschen ist eine ganz andere Geschichte als die palästinensische Nakba. Aber wer um sie weiß, schreckt eher davor zurück, "From the River to the Sea!" zu rufen.
Nur zur Vollständigkeit: Diese drei Faktoren gelten vor allem für West-Deutschland. In der DDR war die Regierung entschieden antizionistisch, das heißt sie vertrat einen "Antisemitismus gegen Israel" (so der Titel eines Buches von Klaus Holz und Thomas Haury). Es blieb nicht bei verbaler Propaganda. Die DDR hat die palästinensischen und deutschen Linksterroristen massiv unterstützt. Mehr noch, was kaum jemand weiß: Die DDR war direkt an Kriegshandlungen gegen Israel beteiligt. Man konnte es vor einem Jahr auf der Website "InSüdthüringen" nachlesen: "Im Oktober 1973 fanden sich Flieger der Nationalen Volksarmee in Syrien wieder – als Waffenbrüder gegen den ‚jüdischen Klassenfeind‘. Die DDR organisierte (im Jom-Kippur-Krieg) Waffenlieferungen an Syrien. Darunter waren zwölf Abfangjagdflugzeuge vom Typ MiG-21M mit Raketen, Bordausrüstung und Bodengeräten. Die Begleitung des Transports übernahmen 45 ausgewählte Armeeangehörige, darunter zwölf Piloten. Die DDR-Piloten stiegen für einen Überprüfungsflug mit den voll bewaffneten Maschinen auf. Dass sie nicht in einen Kampf mit israelischen Fliegern verwickelt wurden, gleicht einem Wunder."
Viele Geschichten (hier wirklich nur sehr holzschnitthaft vorgestellt), viel Geschichte – sie bestimmt wesentlich, wie wir von Deutschland oder Spanien aus nach Israel und Gaza schauen.
Manchmal wünschte ich mir, wir könnten diesen historischen Ballast abwerfen, um frei und unvoreingenommen das wahrzunehmen, was jetzt gerade geschieht, und politisch mit daran arbeiten, dass Israelis und Palästinenser sicher und in Frieden leben können. Doch das ist unrealistisch. Deshalb ist es besser, sich diese Geschichten bewusst zu machen, sie zu erinnern und einander zu erzählen, damit wir uns zumindest in Europa besser verstehen, gerade wenn wir anderer Meinung sind.