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Diese Funktion in der "DB Navigator"-App der Deutschen Bahn hat es mir angetan: Wer sein Reiseziel eingegeben hat, kann die Option "Nur D-Ticket-Verbindungen" anklicken. Wie lange dauert es wohl von Frankfurt am Main nach Neumünster, 530 Autokilometer entfernt? Die Stadt liegt in Schleswig-Holstein, 60 Kilometer nördlich von Hamburg. In der Gegend bin ich aufgewachsen.
Neugierig tippte ich den Namen der Bushaltestelle vor unserer Haustür ein – schon Ausgangspunkt für mein erstes Mikroabenteuer, eine Nacht im Wald. Und als Ziel: Neumünster. Abfahrt: 10:41 Uhr, Ankunft: 20:13 Uhr. Macht genau 9 Stunden und 32 Minuten. Nähme ich den ICE, könnte ich es auch in 5 Stunden und 13 Minuten schaffen.
Vier Stunden mehr? Mir kommt das wenig mikroabenteuerlich vor. Wenn man zur Urlaubssaison zehnstündige Autoreisen in die Bretagne oder Flugreisen nach Bali ankündigt, erntet man anerkennendes Nicken. Aber allen, denen ich von meinem Bahn-Trip berichte, gucken mich an, als hätte ich ihnen gerade erzählt, ich würde zu Fuß nach Neumünster gehen – im Winter, bei Schneeregen, mit Zelt. Das motiviert mich dann doch!
Zumal mein kleines Abenteur auch eine politische Dimension bekommen hat. Als ich packe, sind die Nachrichten voll mit einem Beschluss der Landesverkehrsminister: Der Preis für das Deutschlandticket soll steigen, von 58 Euro auf 63 Euro im Monat. 2022, in der Corona-Pandemie, war der Einheitstarif für den Nah- und Regionalverkehr als 9-Euro-Ticket eingeführt worden und hatte viele Menschen begeistert. Ab 1. Mai 2023 kostete es 49 Euro, derzeit 58 Euro.
Meine ersten Wege sind Gewohnheit. Ab in den Bus, weiter zur U-Bahn-Station. Dann aber nicht zum Hauptbahnhof, sondern in Frankfurt-Eschersheim in die S-Bahn nach Friedberg - alles mit einem Ticket. Umstieg in den Regionalexpress nach Kassel. Der Zug fährt pünktlich ab. Viele Fahrgäste haben Koffer dabei. Offenbar haben sie entferntere Ziele, ab Kassel dann vielleicht mit dem Fernverkehr. In Marburg sehe ich das Landgrafenschloss über der Lahn, hier komme ich sonst nie vorbei. Die Namen anderer Haltestellen höre ich zum ersten Mal: Treysa, Borken, Wabern. Die Landschaft ist schön, ich sehe viel Wald.
Blöder Fehler: Kassel gibt es zweimal!
Nach etwas weniger als zwei Stunden folge ich der Masse und steige ich gedankenlos in Kassel-Wilhelmshöhe aus. Wir kommen auf Gleis 10 an, ich habe zwölf Minuten Zeit, um an Gleis 11 in die Regionalbahn nach Göttingen zu steigen. Aber Gleis 11 finde ich nicht. Ich gehe hoch in die Bahnhofshalle, schaue auf die Abfahrtstafel. Mein Zug fehlt. Am Servicepoint sagt mir ein Mitarbeiter: "Die Regionalbahn fährt ab Kassel-Hauptbahnhof, da hätten Sie noch eine Station weiterfahren müssen."
Was nun? Einen kurzen Moment denke ich daran, komplett aufzugeben und mich einfach in den nächsten ICE zu setzen. Der Sturkopf in mir sucht aber in der DB-App schon nach der nächsten Verbindung. Mit der wäre ich erst um 21:13 Uhr in Neumünster. Puh. Ich schummele und steige in einen ICE nach Berlin, hocke mich in das leere Kleinkindabteil und fahren in wenigen Minuten bis nach Göttingen. So habe ich mich quasi selbst überholt und ärgere mich über die 17 Euro, die mich mein Fauxpas kostet, wohlgemerkt trotz Bahncard 50. Was aber im Vergleich zeigt: Für 58 Euro von Frankfurt nach Neumünster zu kommen, ist unschlagbar günstig, zumal das Deutschlandticket einen ganzen Monat lang gültig ist.
Das Meer oder die Berge sehen - für manche geht das nur mit dem Deutschlandticket
Für Menschen mit wenig Geld sind Reisen mit dem Deutschlandticket auch eine Chance, mal aufs Meer oder auf die Berge zu sehen. "Besonders die lang geführten Regional-Express-Linien werden genutzt von Menschen, die Fernreisen machen", sagt Andreas Schröder, stellvertretender Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes "Pro Bahn". Das Deutschlandticket zwinge auch den Fernverkehr der Deutschen Bahn und dessen Konkurrenten Flixtrain zu günstigen Sparpreisen, die nutzen könne, wer früh buche. Aha, denke ich: Diesen Effekt des Deutschlandtickets, von dem alle etwas haben, hatte ich nicht auf dem Zettel!
In Göttingen mische ich mich unter die vielen Menschen, die auf den Metronom nach Uelzen warten. Es ist 15 Uhr am Freitagnachmittag, der Pendler- und Wochenendverkehr setzt ein. 19 Haltestellen, zwei Stunden und 34 Minuten, die längste Etappe. Eine Dame bemüht sich, ein Kind zu unterhalten. Ich vermute, es ist ihr Enkel. Oft will er weglaufen, aber jedes Mal fängt sie ihn mit denselben Worten wieder ein. "Ich habe Angst, dass dich jemand mitnimmt und mit dir aussteigt!" Als die Worte das Kind nicht mehr so recht überzeugen wollen, erklärt die Frau dem Kleinen, wie man im Notfall die Scheibe mit dem Hammer einschlägt, der an der Zugwand hängt. Das fasziniert ihn. In Einbeck-Salzderhelden steigen sie aus.
Bei Kreiensen sehe ich neidisch zur ICE-Trasse hinüber, die hier auf Stelzen verläuft. Die Ansage der Zugbegleiterin kenne ich längst schon auswendig. Sie spricht Deutsch mit Akzent. Ich vermute, sie ist aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen. "Ihr Deutschlandticket ist nur gültig mit eine amtlische Lischtbildausweis." Sie kontrolliert nun auch den Wagen, in dem ich sitze. Sie ist klein, zierlich, aber bestimmt. Und will auch meinen Ausweis sehen.
Kurz vor Hannover bemerke ich, wie mich ein Mann böse anguckt. Er ist mit einer Frau und einem Kleinkind unterwegs. Mist, ich sitze auf einem Familienplatz! Eilig setze ich mich um. Die Zugbegleiterin steigt aus. Sie lacht. Ich freue mich, weil es so wirkt, als sei die Frau komplett in ihrem neuen Leben angekommen – wenn ich denn überhaupt recht habe mit meiner Vermutung, dass sie aus der Ukraine geflohen ist. Auf dieser Reise gibt es viel mehr Thesen als Gewissheiten und keine langen Unterhaltungen, wie ich sie oft schon im ICE-Bordbistro geführt habe. Viele Fahrgästen nutzen Kopfhörer, fast niemand redet, mein Zeitgefühl verschwimmt.
In Uelzen bleiben mir 20 Minuten Aufenthalt. Ich riskiere den Besuch im Supermarkt neben dem Hundertwasser-Bahnhof. An der Kasse warte ich nervös in der Schlange, schaffe es aber problemlos in den nächsten Metronom nach Hamburg. Noch einmal umsteigen, dann bin ich da. Über der Elbe geht die Sonne unter, darüber vergesse ich fast die kleine Verspätung, die der Metronom hat. Meine Bahn-App zeigt an: Den Zug nach Neumünster werde ich verpassen. Ich setze zum Sprint an und schaffe es doch noch und sitze hechelnd im Regional-Express Richtung Kiel.
Dann bin ich in Neumünster, pünktlich um 20:13 Uhr. Nach neuneinhalb Stunden. Mit dem Auto haben wir auch schon mal so lange in den Norden gebraucht. Die Kinder schrien, weil sie nicht mehr konnten. Mit dem Auto zu verreisen, meide ich. Die Politik aber protegiert den motorisierten Individualverkehr. Die Koalition aus Union und SPD will die Pendlerpauschale erhöhen. Den Staat wird das zwei Milliarden Euro im Jahr kosten. Klar, auch Bahnfahrer, die pendeln, profitieren davon, aber die Regierung hat wohl vor allem Autofahrer im Blick. Milliarden kostet auch das Dienstwagenprivileg, von dem vor allem Gutverdiener profitieren – und Männer. Auch an andere klimaschädliche Subventionen traut(e) sich weder die "Ampel" noch die Koalition aus Union und SPD heran. Eine Studie hat ergeben, dass die Allgemeinheit jeden Autofahrer im Schnitt mit 5000 Euro pro Jahr subventioniert, wenn man Kosten wie Umweltschäden oder den Straßenbau berücksichtigt. Fürs Deutschlandticket ist nicht mehr Geld da, dabei hat es nachweislich dazu geführt, dass mehr Menschen das Auto stehen lassen. Ist das klug und gerecht?
Müde falle ich in meiner Herberge ins Bett, die Restauranttipps von der Frau an der Rezeption missachte ich. Wie war die Reise? Bevor ich einschlafe, denke ich an den Mann, der in Großburgwedel ausgestiegen war. Er schob sein Rad aus dem Zug, auf seinem Rucksack saß ein Schmetterling. Als er sich aufs Fahrrad schwang, flatterte das Tier weg. Der Mann lächelte in meine Richtung, ich lächelte zurück. Ob er mich durch die dreckigen Scheiben sehen konnte, weiß ich nicht. Aber der ICE hätte hier nicht gehalten, er wäre durchgerauscht – und allein fürs Lächeln hat sich meine langsame Reise schon gelohnt.
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Während die Politik die Nutzung eines klimafreundlichen Verkehrsmittels teurer macht, haben die Deutsche Meteorologische Gesellschaft und die Deutsche Physikalische Gesellschaft gemeinsam den Klimaaufruf 2025 veröffentlicht. Darin warnen die Forschenden unter anderem vor einem "hohen Risiko, dass in einigen Regionen der Welt die Grenzen der Bewohnbarkeit überschritten werden" - und zwar bereits um das Jahr 2050 herum, also in 25 Jahren. Menschen würden versuchen, aus diesen Regionen zu fliehen.
Weiter heißt es in der Zusammenfassung des Aufrufs: "Die Kosten durch infolge extremer Wetterereignisse zerstörte Infrastruktur, sinkende Arbeitsleistung, medizinischen Mehraufwand und Prävention können sich in Deutschland bereits bis 2050 auf bis zu eine Billion Euro summieren."
Eine gute Nachricht gibt es aber auch: Dies sei kein "unentrinnbares Schicksal", die schlimmsten Folgen der Erderwärmung ließen sich noch verhindern, wenn wir nun entschlossen handelten.
Zu den wichtigsten Maßnahmen zählt eine Energie- und Mobilitätswende.