Sport und Spiritualität
Meine Religion: Marathon
Alle laufen Marathon. Aber warum quälen sich vernünftige Menschen über eine Strecke von mehr als 42 Kilometern? Und warum jubeln ihnen Hunderttausende zu? Eine teilnehmende Beobachtung
Kurz nach dem Start: Die Siegessäule symbolisiert hier auch den Sieg der Marathonläufer über sich selbst
Kurz nach dem Start: Die Siegessäule symbolisiert hier auch den Sieg der Marathonläufer über sich selbst
Matthias Makkarinius / Getty Images
10.10.2025
7Min

Keuchen, schwitzen, fluchen, hoffen. Auf das Ende der Tortur, auf die Ziellinie des Berlin-Marathons 2023. Meine Oberschenkel glühen, die Füße sind taub vor Schmerz, meine Lunge steht in Flammen, ich will nur noch, dass es aufhört. Zwei Kilometer noch. Ein Blick auf die Uhr, meine Zeit ist nichts Besonderes, fast 25 000 andere sind heute schneller als ich. Damit bin ich unterer Durchschnitt, und dennoch jubeln mir von jenseits der Absperrungen Hunderte zu, als wäre ich ein Rockstar, sogar Polizisten rufen: "Du schaffst es, Hilmar!"

Ich aber bin am Ende. Warum tue ich mir diese Quälerei an, und wofür der Applaus? Was hält diesen bizarren Kult am Laufen?

"Schon in der Antike sind die Olympischen Spiele aus den Kultfesten zu Ehren diverser Gottheiten hervorgegangen", erklärt mir Gerd Steins, Berlins vielleicht berühmtester Sporthistoriker. Der Mittsiebziger genießt das Spektakel des Stadtlaufs, besonders ­kostümierte Läufer haben es ihm angetan, die als Obelix, Spiderman, Dinosaurier oder Schlumpf ­laufen, ein Mix aus Karneval und Prozession. Als Zuschauer bevorzugt er die letzten, härtesten Kilometer des Rennens, in den Gesichtern das Ringen aus Freud und Leid. Wobei er auch schon bizarre Szenen erlebt hat: Einmal rannte ein Läufer vorbei, sich mit einer Peitsche geißelnd, "der hatte wohl Sport und Kreuzweg verwechselt".

Der Stadtlauf als Prozession? Diese Lesart war durchaus gewollt vom französischen ­Pädagogen Pierre de Coubertin, dem Er­finder der neuzeitlichen Olympischen Spiele, mit dem Marathonlauf als Höhepunkt: "Für mich bedeutet Sport eine ­Religion mit Kirche, Dogmen, Kultus . . ., aber besonders mit einem religiösen ­Gefühl." Dieser Unterton schwingt noch heute mit, auch beim US-amerikanischen Ultramarathonläufer Constantine "Dean" Carnazes: "Beim Marathon geht es nicht ums Laufen, sondern um Erlösung."

Der Marathon - ein Supermarkt des Glaubens?

Sport als Religionsersatz? Das wäre stimmig, da Berlin als schnellster und größter Marathon der Welt gilt, mit über 50 000 Teilnehmenden und 13 Welt­rekorden. Und gleichzeitig als Hochburg des Unglaubens: Drei Viertel gehören hier keiner Glaubensgemeinschaft an. "Formwandel der Religion" wird dieser Effekt genannt, eindrücklich beschrieben vom österreichisch-­amerikanischen Glaubenssoziologen Thomas Luckmann in seinem Buch "Die unsichtbare Religion".

Der Marathon würde demnach wie ein Supermarkt des Glaubens funktionieren, für jede Laufkundschaft ­etwas. Am Tag zuvor pilgere ich mit den anderen hinaus zu einer Messehalle, um unsere Startnummern abzu­holen, umringt von einem neon­bunten Ramschbasar voll mit Schuhen, Socken, Ener­gie­riegeln und anderen Talismanen der Selbstoptimierung. Mittags feiern Tausende in der Gedächtniskirche einen ökumenischen Marathon-Gottes­dienst, die Predigt hält ein ­Läufer und Theologe. Abends die ­Kommunion, sie heißt Pasta-­Party, es geht dabei ums Carboloading, das Auffüllen der Energiereserven für den nächsten Tag. Luckmanns unsichtbare Religion, hier wird sie serviert, so scheint es. Aber ist das wirklich so?

Nichts davon sagt mir zu, obwohl ich Marathon-Fan bin. Der Preis für mein Missvergnügen: 163 Euro Startgebühr. Für diese stattliche Summe könnte ich in Restaurants schlemmen, in Konzerten ­tanzen, in Kinofilmen schwelgen, Wein schlürfen, schwer und voll und süß. Stattdessen bekomme ich für 163 Euro zunächst: Selbstquälerei. Ist das noch Spaß oder schon Sucht? Manchmal bin ich mir selbst ein Rätsel.

Anspannung schmilzt ab, Glückshormone fluten Körper und Seele

Sonntagmorgen, es geht los. Normale Menschen drehen sich noch einmal im Bett um, ich irre durch den Startbereich vor dem Reichstag. Tohuwabohu, formloses Durcheinander, leere Blicke. Ein Gewirr aus Dehnungsübungen, Vorfreude und Kleiderbeuteln mit kreisch­bunter Funktionskleidung. Schläfrige Nervosität, lange Schlangen an den Klos, Athleten ­erleichtern sich im Unterholz. Doch siehe, nur Minuten vor dem Start: Die Masse formiert sich, wir sortieren uns brav in unsere Startblöcke ein, der Countdown dröhnt über Lautsprecher, wir klatschen im Gleichtakt, dann traben wir los, das Schlurfen von zigtausend Sohlen, jeder für sich, alle gemeinsam in dieselbe Richtung gen Siegessäule, geleitet wie von unsichtbarer Hand. Anspannung schmilzt ab, Glückshormone fluten Körper und Seele, Schritt um Schritt um Schritt schwimme ich mit der Masse, gelöst und selbstvergessen.

Durchlaufe ich hier ein Ersatzritual für ­mein Bedürfnis nach Transzendenz? "Ja, innerhalb von vier Stunden können die ­Marathonpilger fast so etwas erleben wie damals auf den Prozessionswegen", sagt Ken Chitwood, 40, ein amerikanischer Pfarrer, der gerade an der Uni Bayreuth über die Globalisierung der ­Religion habilitiert: "Das ähnelt fast einem Kreuzweg hinauf zu einer Kirche auf dem Berg, mit dem Aufnehmen des Kreuzes am Start, dem ­simulierten Tod an der Strecke und der ­Erlösung im Ziel." Nach vielen Marathons bevorzuge er heute längere Strecken, sogenannte Ultramarathons. Er selbst bezeichnet sich als "Theologe ohne Grenzen".

Der Marathon als Kreuzweg? Nicht jedem Laufenden dürfte diese Symbolik geläufig sein. Der christliche Subtext sei optional, erwidert Ken Chitwood. Auf dem Markt der Sinnangebote sei für ­jede und jeden etwas dabei, auch für bekennende Agnostiker wie mich: Leistungsethos für Workaholics, 100 Bands am Straßenrand für Hedonisten, Selfies für Selbstdarsteller. Doch darunter pulsiere ein gemeinsamer Grundbass: "In einer Massengesellschaft wächst die Anonymität, und verbindliche Normen verschwinden", sagt Chitwood. "Anomie" nannte das Émile Durkheim, einer der ­französischen Väter der modernen Sozio­logie: die ­Schwächung oder gar Auflösung kollektiver Regeln, anything goes, eine Art postmodernes Tohuwabohu.

In diesem bedrohlichen Durcheinander ­fallen Erschöpfung und Schöpfung zu­sammen: Das gemeinsame Traben im Pulk bringt Klarheit, wir rennen nicht gegeneinander, sondern gemeinsam, in eine Richtung, kein Richtungszwist, kein Zweifel, kein Zurück.

Der "Theologe ohne Grenzen" weiß, wovon er spricht, er selbst ist einmal in Arizona 24 Stunden gelaufen, nonstop durch die Nacht, bis ihn Halluzinationen heimsuchten, er träumte mit offenen Augen von wilden ­Tieren: "Je länger ich laufe, desto mehr spüre ich die psychische und manchmal sogar ­spirituelle Dimension."

Kilometer 21, die Hälfte ist geschafft, Volksfeststimmung in Schöneberg. Musik, Kinder strecken ihre Hände aus zum ­Abklatschen, Euphorie und Karneval. Ich selbst trage ein ­albernes Kostüm aus Lederhose und ­kariertem Hemd, Zuschauer juxen und jodeln. Die Welt verschwimmt in bunten ­Farben, ich bin überfordert von den Eindrücken und knipse während des Laufens mit meiner Kamera in die Menge, um später das Erlebte zu verarbeiten. Und mache mich für den Abstieg bereit, hinab in die Innenwelt.

Ab Kilometer 24 folgt die finsterste Stunde, hier lauert der berühmte "Mann mit dem Hammer", ich fröstele und fühle mich schlapp. Das liegt wohl daran, dass mein Stoffwechsel einen Gang herunter­schaltet und statt Glykogen nun zunehmend Fettreserven verbrennt. Das ist anstrengend. Der Laufpulk dünnt sich aus, kaum Zuschauer, am Straßenrand ­hocken Gestrandete, jede und jeder kämpft für sich – und mit den eigenen Dämonen.

Andere Volksläufe folgen ähnlichen Erzählschemata: In New York überfiel mich der "Mann mit dem Hammer" auf den Holperstraßen und Rostbrücken zwischen Queens und der Bronx. In Boston erlitt ich einen Einbruch am steilen Heartbreak Hill. "Tod und Wiedergeburt" nennen amerikanische Erzähltheoretiker wie Joseph Campbell und Christopher Vogler diese "Helden­reise", geläufig aus Odyssee, Orpheus, Osterkult oder Star Wars.

"Es ist ein Spektakel des Weltuntergangs", orakelte der französische Philosoph Jean Baudrillard 1987 angesichts des New Yorker Laufs: " . . . mit nackten Oberkörpern und verdrehten Augäpfeln suchen sie alle den Tod, den Tod durch Erschöpfung." Er folgte der damaligen Mode, Ausdauersportarten kulturkritisch als Selbstzurichtung für die kapitalistische Leistungsgesellschaft zu ent­larven: schneller, höher, weiter.

Aber trifft diese Diagnostik auf uns zu? Kilometer 33, einbiegen auf den Ku’damm, die Konsum-Rennbahn des saturierten Westberlin. Die Menschenmenge tobt, vor dem Kaufhaus des Westens ein Meer aus mexikanischen Fahnen, sie rufen meinen Namen. Ich komme aus meinem Seelenloch, ich schwebe über den Asphalt, ich schöpfe neue Hoffnung.
"Warum laufen Sie?", fragte der Sport­psychologe Alexander Weber vor 40 Jahren, damals Dozent an der Uni Paderborn, er teilte 900 Fragebögen aus.

Die allermeisten Jogger suchen "seelisches Gleichgewicht"

Kulturkritiker wetterten damals gern gegen die "Trimm-dich-­Ideologie" und unterstellten, dass es dabei um die körperliche Bestform für den Konkurrenzkampf im Berufsalltag gehe. Weber erlebte eine Über­raschung: Die allermeisten Jogger suchen nicht Fitness, sondern "seelisches Gleichgewicht", Traben als Therapie. Weber, heute 88, spricht von der "Lebensschule ­Laufen". Und diese Therapie scheint ansteckend, sie lässt auch die Zuschauenden nicht kalt.

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Kilometer 40, ich taumele durch einen Tunnel aus Erschöpfung und Glück am Gendarmenmarkt, edle Wohnlage, gerahmt von Deutschem und Französischem Dom, ringsum Schlurfen, Humpeln, Keuchen, die Menge wie gebannt von der öffentlichen Zurschaustellung unseres Leidens. Kein Abfeiern der Fitness, der Siegertypen, der Meritokratie, im Gegenteil: Je schwächer die athletische Leistung, desto stärker der Applaus – inverser Jubel. Rollstuhlfahrer werden vorbeigerollt, Strauchelnde gestützt, Krämpfe massiert, frei nach dem Motto: langsamer, tiefer, näher.

Kilometer 42,195: Zieleinlauf am sowjeti­schen Ehrenmal neben einem ausgemus­terten T-34-Panzer, Erleichterung, Tränen, Wildfremde liegen sich in den Armen.

Warum tut man sich das an? Peter Bartel staunt darüber immer noch und immer wieder, auch mit 83 Jahren. Zeitlebens war der Gymnasiallehrer mit raspelkurzen Haaren und neugierigem Blick auch Extremsportler, Skifahrer, Bergsteiger, er lief beim Spartathlon von Athen nach Sparta nonstop 246 Kilometer, einmal rannte er sechs Tage und Nächte am Stück.

Aber seinen größten Triumph erlebte er 2024 beim Berlin-Marathon: Er kam als Aller­letzter an, nach fast neun Stunden. Schon 50 Jahre zuvor war er beim ersten Berlin-­Marathon dabei. Wenige Schritte vor dem Ziel stolpert er, stürzt fast, wird gehalten, dann küsst er die Ziellinie. Das Video ging viral auf Tiktok, Youtube und Facebook. Der Erste war der Letzte. Und nutzte die Publicity, um Geld für Obdachlose zu sammeln, 54 000 Euro kamen zusammen. Das Fazit seiner illustren Sport­karriere: "Dass ich beim Marathon der Letzte war, wurde zu meinem größten Erfolg!"

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