Chancengleichheit an Schulen
Migrationsquoten sind nicht die Lösung
Bildungsforscher Marcel Helbig über die Probleme an sogenannten Brennpunktschulen – und mögliche Ursachen
gebastelte Schultüten an einer Pinnwand
Schulen in sozialen Brennpunkten zu unterstützen – das ist auch eine bundespolitische Aufgabe
Hauke-Christian Dittrich/dpa/picture alliance
26.08.2025
7Min

Bundesbildungs- und Familienministerin Karin Prien (CDU) sieht in einer sogenannten "Migrationsquote an Schulen" eine Möglichkeit, um etwa Deutschkenntnisse in Schulklassen zu stabilisieren. Was halten Sie von solchen Überlegungen?

Schulen stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Karin Prien hat es leider nur auf die Migrationsanteile heruntergebrochen. Ich sehe das vielmehr als ein Problem der sozialen Herkunft und der ökonomischen Ungleichheiten. Unter Migration fällt der Banker, der aus London nach Frankfurt am Main gezogen ist, ebenso wie der Flüchtling aus Afghanistan. Das macht die Diskussion so ungenau. Fest steht: Die Schulen allein können diese Probleme nicht lösen.

Kaja Smith

Marcel Helbig

Prof. Dr. Marcel Helbig, geboren 1980, leitet den Arbeitsbereich Strukturen und Systeme am Bamberger Leibniz-Institut für Bildungsverläufe und forscht zu Bildungsentscheidungen und Bildungsprozessen sowie Migration. Außerdem ist er Lehrbeauftragter für Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt.

Wie entstehen die Probleme?

Das hat sehr viel mit der Ungleichverteilung in Städten zu tun. Die unbeliebten Viertel mit niedrigen Mietpreisen bleiben für sozial benachteiligte Schichten übrig. In den meisten Städten im Ruhrgebiet ist der Stadtteil mit der höchsten Armutsquote gleichzeitig auch der mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Aber dass manche Kinder schlechtere Chancen haben in unserem Bildungssystem, das liegt nicht allein an Migration.

Woran liegt es dann?

Entscheidend ist die ökonomische und kulturelle Dimension.

Was meinen Sie mit "kultureller Dimension"?

Kulturell nicht im Sinne des Kulturkreises, sondern im Sinne des kulturellen Kapitals. Das heißt, ob die Eltern gebildet oder nicht gebildet sind und welchen beruflichen Status sie haben. Das entscheidet über den Erfolg eines Kindes im Bildungssystem. Das taucht aber in der allgemeinen Schulstatistik nicht auf — und deshalb reden wir über die Benachteiligung von Migranten.

"Die Bildung der Eltern hat einen großen Einfluss"

Marcel Helbig

Die Ministerin wurde für ihre Idee stark kritisiert, ihr wurde Diskriminierung vorgeworfen. Zu Recht?

Wenn ich nicht in einem Land geboren bin, ist es verständlich, dass ich im Alter von 10 oder 15 Jahren nicht die gleichen sprachlichen Fähigkeiten habe wie Muttersprachler. Ob es dann schon Diskriminierung ist, diese Probleme zu benennen? Aber der Fokus ist einfach falsch, wenn immer wieder die Kinder mit Einwanderungsgeschichte dafür herangezogen werden, dass unser Bildungsniveau in den vergangenen Jahren so gesunken ist. Bei den Tests für Viertklässler beobachten wir seit etwa 2012 auch bei den hier geborenen Kindern einen Rückgang in den Kompetenzen und zunehmende Sprachdefizite. Außerdem ist die Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund sehr heterogen, und es gibt durch Fluchtzuwanderung heute viele Kinder, die erst kurz in Deutschland sind. Das große Problem ist, dass wir es nicht schaffen, ihnen eine adäquate Sprachförderung zu bieten, damit sie vernünftig durch das System laufen können.

Dabei sind viele Kinder aus Einwandererfamilien hoch motiviert …

Dieser Aspekt geht in der Debatte vollständig unter. Eine festgemeißelte Erkenntnis der Bildungsforschung: Die Bildungsambitionen von Kindern mit Einwanderungsgeschichte sind höher als bei Kindern ohne Einwanderungsgeschichte. Sie wollen mehr. Anekdotisch kann ich vom sozial benachteiligten Raum Erfurt erzählen; im Norden der Stadt gibt es riesige Plattenbaugebiete, Viertel mit sehr niedrigen Übergangsquoten auf das Gymnasium. Vor einigen Jahren kamen die Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und anderen Gebieten hierher. Die Sozialarbeiter vor Ort sagen, dass die einzigen Kinder, die später auf das Gymnasium gehen und denen das zugetraut wird, die zugezogenen Kinder sind. Nicht die, die in zweiter Generation mit Hartz IV hier leben.

Sie sagten eben, das Niveau bei Schülerinnen und Schülern geht seit 2012 insgesamt zurück. Woran liegt das?

Das kann ich auch nicht sagen: Wir haben die Kitas ausgebaut, haben Bundes- und Landesprogramme aufgelegt, die Armutsquote in den Ostbundesländern sinkt, es besuchen heute viel mehr Kinder eine Kita als noch vor 20 Jahren. Und trotzdem können wir das nicht erklären, was frustrierend ist. Offenbar machen wir einiges richtig, aber irgendwie schlägt sich das nicht in den Kompetenzen der Kinder nieder. Mich hat sehr überrascht, dass die Viertklässler und Neuntklässler bei IQB-Bildungstrends in Thüringen und Brandenburg massiv abgestürzt sind – und zwar Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Gleichzeitig ist Sachsen vergleichsweise stabil geblieben. In allen drei Bundesländern herrscht gleichermaßen Lehrermangel. Am Ende haben wir relativ wenig Erkenntnisse darüber, woran es liegt, dass ein Land besser oder schlechter wird. Es fehlt auch das politische Interesse, diese Frage zu beantworten, und uns Forschenden fehlt oftmals die Datengrundlage.

"Sprachtests sind ein großer bürokratischer Aufwand"

Marcel Helbig

In Ländern wie Hamburg oder Bayern gibt es verpflichtende Sprachtests für Viereinhalbjährige. Reicht das?

Flächendeckende Sprachtests sind ein großer bürokratischer Aufwand. Eine Behörde schickt einen Brief, lädt zum Sprachtest ein. Dann geht das Kind hin und man sagt, du musst in die Kita oder du musst nicht in die Kita. Das geht auch einfacher: indem man eine Kitapflicht ab dem vierten Lebensjahr einführt. Sprachtests und Screenings könnten dann direkt in den Kitas stattfinden und auch die Maßnahmen, die daraus folgen. Eine Kitapflicht wäre meiner Einschätzung nach auch politisch gar nicht so schwierig durchzusetzen, weil selbst in den Bundesländern mit den niedrigsten Kitaquoten 90 Prozent der drei- bis sechsjährigen Kinder eine Kita besuchen. Andere Länder wie Frankreich oder England beginnen auch eher mit frühkindlicher Bildung.

Wo fängt Bildung eigentlich an?

Wenn man Bildung auch als kognitive Entwicklung der Kinder auffasst, dann wahrscheinlich schon im Bauch der Mutter. Wenn Mütter rauchen oder trinken, wirkt sich das negativ auf die Gehirnentwicklung und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes aus. Danach ist entscheidend, ob das Kind viele Anregungen bekommt, ob ihm zum Beispiel vorgelesen wird oder nicht. Aber auch hier wirkt sich soziale Ungleichheit aus. Schon bei Zweijährigen gibt es große Unterschiede im Wortschatz und bei Vierjährigen beim einfachen Rechnen. Die kommen natürlich auch durch das Elternhaus zustande. Deshalb ist die Kita so wichtig. Alle Studien weisen darauf hin, dass vom Kitabesuch vor allem die unteren sozialen Schichten massiv für Sprachkenntnisse und die weitere Bildungskarriere profitieren. Bei den höheren Schichten hat es keinen großen Effekt, ob das Kind in die Kita gegangen ist oder nicht.

Wie wichtig ist im digitalen Zeitalter überhaupt noch die Lesekompetenz?

Sehr wichtig! Selbst wenn ich kein Buch mehr in die Hand nehme oder keine Belletristik lese. Ohne lesen zu können, komme ich nicht durchs Bildungssystem. Auch im Internet komme ich dann nicht zurecht, wahrscheinlich nicht mal auf Tiktok. Ich kenne auch keinen Job, bei dem das Lesen nicht gebraucht wird. Lesen ist eine Kulturtechnik, die da sein muss, und daran sollte nicht gerüttelt werden. Auch im Startchancen-Programm der Bundesregierung werden Lesen und Mathematik als Ziele gesetzt.

Lesetipp: Handyverbot an Schulen?

Oft werden Handys als ursächlich für sinkende Lesekompetenzen und die Konzentrationsfähigkeit von Kindern angeführt. Helfen Handyverbote an Schulen?

An Grundschulen ist das eine berechtigte Frage: Müssen Kinder in dem Alter wirklich ein Handy oder Smartphone dabeihaben? Viele Eltern sind hier einverstanden, dass das im Unterricht nichts zu suchen hat. Dementsprechend sind Handyverbote an Grundschulen vertretbar. An weiterführenden Schulen ist das schon etwas anderes. Hier setzen Lehrkräfte gern Tools wie zum Beispiel Umfragen ein, die über das Handy laufen. Das ginge natürlich auch über andere Endgeräte. Grundsätzlich sollte klar sein: Das Handy bleibt im Unterricht aus. Allerdings muss man auch wissen, dass z.B. die Einschulungsuntersuchung in Berlin für Sechsjährige Mitte der 2010er Jahre bereits eine hohe Zahl Kinder festgestellt hatte, die einen Fernseher im eigenen Zimmer hatten. Gerade bei den sozial benachteiligten Schichten. Insofern hat sich das Medium heute etwas verändert, aber den Medienkonsum gab es schon vorher.

Sie erwähnten das Startchancen-Programm der Bundesregierung. Dieses unterstützt seit dem Schuljahr 2024/25 ausgewählte Schulen mit hohem Anteil benachteiligter Kinder durch Fördermittel. Ein guter Ansatz oder nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Ich glaube, dass die Maßnahmen des Programms nur wenig an dem Problem sozialer Ungleichheit und den Unterschieden zwischen den Schulen lösen werden. Ein bisschen Schulentwicklung, eine leichte Erhöhung der Sozialarbeiterstellen und ein bisschen Verschönerung des Schulgeländes unter pädagogischen Gesichtspunkten – all das reicht nicht aus. Aber es ist ein Leuchtturmprojekt, durch das das Thema Brennpunktschule und Bildungsungleichheit in den Fokus rückt. Ich freue mich, dass die Schulen nach sozialen Kriterien wie Armut und Migrationshintergrund innerhalb der Länder ausgewählt werden. Allerdings erfolgt die Verteilung der Mittel an die Länder größtenteils nach ihrer Bevölkerungszahl. Das führt dazu, dass in Nordrhein-Westfalen und Bremen mit deutlich höheren Kinderarmutsquoten weniger Schulen gefördert werden als nötig, in Bayern dafür Schulen, die noch relativ gute soziale Ausgangsbedingungen haben.

"Kein modernes Bildungssystem trennt seine Kinder nach der vierten Klasse"

Marcel Helbig

Länder wie Schweden, Dänemark oder Kanada werden oft als Positivbeispiele für Bildungspolitik genannt. Was machen andere Länder besser?

Kein halbwegs modernes Bildungssystem trennt seine Kinder nach der vierten Klasse. Das macht in der ganzen OECD neben Deutschland nur ein einziges Land, und das ist Österreich. Im Gegensatz zu Deutschland wird dort aber zumindest mal die Debatte darüber geführt, das endlich zu ändern. Denn damit wird die Trennung sozialer Schichten immer weiter verstärkt und produziert eine Gesellschaftsstruktur, die sich verkrustet. Gutsituierte, leistungsstarke Kinder werden auf das Gymnasium geschickt und sozial benachteiligte Gruppen auf Real- oder Hauptschulen. Und diese Schulen haben dann die geballten sozialen Probleme und den größten Lehrermangel.

Ab wann würden Sie als Bildungsforscher eine solche Trennung vorschlagen?

Jedenfalls nicht ab Klasse vier, sondern sechs oder neun. Am Ende ist die Frage, ob der politische Wille da ist. Den sehe ich zurzeit nirgends. Das Problem ist auch, dass es dafür sehr große Strukturreformen bräuchte: Allein die Schulbauten müssten neu gedacht werden. Die Privatschulen dürfen kein Sehnsuchtsort für höhere Schichten sein, um sich außerhalb neuer Strukturen bewegen zu können.

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