chrismon: Wie nehmen Sie die Stimmung in der Türkei wahr?
Ercan Karakoyun: Es herrscht Aufbruchstimmung, weil sich zum ersten Mal seit den Gezi-Protesten 2013 wieder viele Menschen trauen, öffentlich gegen Erdoğan zu protestieren. Es sind sogar noch mehr Demonstrierende als 2013. Nach einer zwanzigjährigen Amtszeit von Erdoğan sehen wir, dass die Opposition gegen ihn gewachsen ist. Umso härter geht Erdoğan gegen die Demonstrierenden vor. Und er versucht mit aller Macht, seine Wählerklientel an sich zu binden.
Was ist das für eine Klientel?
Das sind viele aus der traditionell-sunnitischen Bevölkerung. Sie verfügen oft über einen geringeren Bildungs- und Sozialstatus und sind religiös orientiert. Erdoğans Wählerschaft lebt eher auf dem Land als in der Stadt, überwiegend in der anatolischen Provinz.
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Die Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen
Die Hizmet-Bewegung (Hizmet, deutsch Engagement oder Dienst) gründete sich in den 1960er Jahren in der Türkei um den Geistlichen Fethullah Gülen (1941-2024). Es handelt sich um eine religiös sehr konservative Organisation, die auf den sozialen Aufstieg durch Bildung setzt. Kritiker werfen ihr vor, dadurch heimlich Gesellschaften islamisieren zu wollen, was diese bestreitet. Nach eigenen Angaben unterhält die Gülen-Bewegung weltweit 200 private Bildungseinrichtungen, in Deutschland 25 staatlich anerkannte Schulen, die allen Kindern offenstehen, egal ob sie Muslime sind oder nicht. In Deutschland wird die Bewegung von der Stiftung Dialog und Bildung in Berlin vertreten.
Fethullah Gülen setzte sich früh für einen Dialog mit religiösen Minderheiten ein und pflegte Kontakte ins politisch linke wie rechte Lager. Gülen und Recep Tayyip Erdoğan waren zunächst Verbündete, 2013 wurde die Gülen-Bewegung aufgrund eines Machtkampfes zwischen Erdoğan und Gülen zum innerstaatlichen Feind. 2016 machte Erdoğan die Bewegung für den Putschversuch verantwortlich, ihre Anhänger werden seitdem verfolgt.