Wenn man zwei Wochen in den atemberaubenden, mit biblischer Geschichte getränkten Landschaften des Sinai unterwegs war, hat das Örtchen Saint Catherine wenig zu bieten. Es liegt unweit des Katharinenklosters, sozusagen fast im Schatten des Mosesbergs, und das ist auch schon das Aufregendste daran. 25. Juli 2011, ein Montagnachmittag aus Staub und Hitze, in den der plötzliche Ruf des Imams fährt. Ohne zu zögern, folge ich ihm, ich weiß, dass man auch als Ungläubiger willkommen ist.
Als die letzten Gebete verrichtet sind und alles zum Ausgang strömt, lädt mich einer der Männer ein, mit ihm Tee zu trinken, gleich hier auf der Terrasse vor der Moschee. Es stellt sich heraus, dass er ein Scheich aus Kairo ist, offenbar sogar ein recht berühmter, angereist in Begleitung von vieren seiner Schüler. Sie sind es dann auch, die uns mit Tee und frisch zugeschnittenen Melonenstücken versorgen, schweigend.
Die Einladung, das stellt sich ebenso schnell heraus, ist eine zum Disput über Islam und Christentum, genau genommen über das Verständnis Jesu als Prophet oder als Inkarnation des dreieinigen Gottes. Immer wieder zitiert der Scheich Verse aus verschiedenen Suren, triumphierend hält er mir dabei sein Handy entgegen, auf dessen Display die Verse auf Deutsch zu lesen sind: Jesus sei nicht etwa Gottes Sohn, sondern Menschensohn gewesen, ein großer Prophet, mehr aber nicht. Mit siegesgewissem Lächeln wiederholt der Scheich die Formulierung "Gott zeugt nicht" und lässt sich von seinen Schülern bewundern.
Ich war zwar kein Nihilist, aber doch Agnostiker und alles andere als bibelfest, ich tat mir schwer, gegen die selbstzufriedene Glaubensgewissheit des Scheichs anzukommen. Sein rechthaberischer Dogmatismus stieß mich geradezu ab, je stärker er auftrumpfte, desto stärker hielt ich dagegen, bekannte mich mit Leidenschaft zu einem Christentum, das ich längst verloren hatte. Oder nur verloren geglaubt hatte? Im Nachhinein begriff ich ein bisschen besser, wie schnell sich ein religiöser Konflikt entzünden, wie schnell sich eine schiere Anschauungssache zu einem handfesten Streit, ja einem Glaubenskrieg entwickeln kann.
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Doch dann passierte etwas Verblüffendes. Während sich der Scheich schon erhoben hatte und mich mit einem letzten arroganten Lächeln zurückließ, verabschiedeten sich seine Schüler der Reihe nach bei mir. Einer davon wollte meine Hand gar nicht mehr loslassen, er versicherte mir, verstanden zu haben, dass ich anderer Meinung sei als sie. Aber, fuhr er fort, ich solle ihm trotzdem versprechen, einmal im Leben den Koran zu lesen. Ohne eine Sekunde nachzudenken, versprach ich es, allerdings unter der Bedingung, dass er seinerseits verspreche, einmal im Leben die Bibel zu lesen. Das werde er tun, versicherte der junge Mann, und erst jetzt lösten wir die Hände und gingen auseinander.
Koran und Bibel lösen ähnliche Reaktionen aus
Zurück in Deutschland kaufte ich mir eine kommentierte Ausgabe des Korans, musste jedoch bald einsehen, dass ich ihn ohne profunde Kenntnis der Bibel nicht wirklich verstehen würde. Eine kommentierte Lutherbibel besaß ich zwar schon, es dauerte indessen ein paar Jahre, bis ich mich dazu aufraffen konnte, sie zu lesen. Komplett zu lesen, von der ersten bis zur letzten Seite. Die Lektüre war eine emotionale Achterbahnfahrt. Beim Hohelied verlor ich mich auf jeder Seite in der Tiefe der Betrachtungen. Über die Sprüche der Propheten regte ich mich derart auf, dass ich Gedichte in ihrem Ton und Gestus schreiben musste, um mich abzureagieren. Danach las ich den Koran, verlor mich erneut, regte mich auf. Beides, Lektüre von Bibel und Koran, hat mich ein ganzes Jahr gekostet, aber es war kein verlorenes, sondern ein gewonnenes Jahr.
Und das alles wegen dieses einen Moments, in dem wir uns zum Abschied wechselweise ein Versprechen gaben. Ob es der junge Ägypter inzwischen eingelöst hat, ob er es immerhin plant, ob er es längst vergessen hat? So oder so, der Händedruck mit ihm hat mein Leben verändert: ein Moment, in dem man den anderen über alle Glaubensgegensätze hinweg annimmt und ihm etwas verspricht, das einen dann später, viel später über die eigenen Grenzen führt, in seine Nähe.