chrismon: Wie kamen Sie darauf, verlassene Elternhäuser zu fotografieren?
Jörg Egerer: Mein Vater musste 2020 mit Demenz ins Pflegeheim und starb wenige Monate darauf an Corona. Nach seinem Auszug sah ich mich durch die Zimmer gehen und nach meiner Kamera greifen, um Bilder von den Dingen zu machen, die er nicht alle mit ins Heim nehmen konnte. Als Privatperson wollte ich einfach ein Andenken. Als Fotograf stellte ich meine Bilder wenig später in einem Kunstverein nahe München aus. Dort sprachen Besucher darüber, wie sie ihren eigenen Nachlass oder den ihrer Eltern sortieren sollen. Da wusste ich: Elternhausfotografie wird mein Ding.
Wie läuft so ein Treffen im Elternhaus ab?
Das Wichtigste ist das Vertrauen. Ich betrete ja mit meiner Kamera die privaten Räume eines verstorbenen Menschen. Meist reagieren meine Kunden beim Anblick eines alten Esstisches oder einer Fotosammlung auf dem Wohnzimmerregal sentimental. Ich kläre in einem Telefonat im Vorfeld ab, wie viel Zeit sie sich für die Begehung nehmen möchten, und erkläre, dass ich nur mich, meine Kamera und meine Bereitschaft zuzuhören mitbringe. Dabei ist eine gegenseitige Sympathie natürlich sehr wichtig. Das Entscheidende findet dann im persönlichen Gespräch vor Ort statt.
Jörg Egerer
Räumen Sie um, damit es schöner aussieht?
Ich verstelle grundsätzlich gar nichts. Oft spiegelt sich genau in dem noch unaufgeräumten Zustand eines Regals oder einer Schublade die erst kürzlich eingetretene Vergänglichkeit wieder. Wenn ein Müllsack im Weg liegt, versuche ich nicht, ihn wegzuräumen, sondern stelle mich einfach so, dass er nicht im Bild ist. Das alles natürlich nur nach Absprache. Und wenn ein Stück Seife in der Dusche liegt und es für die Person dazugehört, gehört es eben dazu. Eine Kundin sagte einmal, ein alter Lippenstift, den ihre verstorbene Mutter täglich benutzt hatte, lag immer genau am selben Ort vor dem Spiegel. Sie trug ihn zu Lebzeiten jeden Tag auf und stellte ihn anschließend immer wieder genau an dieselbe Stelle. Ihr war wichtig, dass ich das einfange. Ich versuche nicht schöne, sondern authentische Aufnahmen zu machen.
Lesen Sie hier: Wann Eltern ihren Kindern Traumata vererben
Welches Erlebnis hat Sie bisher am meisten berührt?
Hochzeitsfotografie und Familienfotografie kennt jeder – das Interessante an Elternhausfotografie ist, dass man die Menschen, die das Bild vollkommen machen würden, nicht mehr ablichten kann. Sie sind fort. Schöne Familienalben mit strahlenden Gesichtern zu durchblättern ist nicht für alle Menschen eine Lösung, vor allem nicht unmittelbar nach dem Tod. Das kann zu aufwühlend sein. Ich erinnere mich an einen Moment, in dem eine Kundin auf eine unscheinbare Ecke im Wohnzimmer zeigte und mir erklärte, dass sich für sie mit Blick dorthin die Leere des Hauses besonders spürbar machte. Dort stand jedes Jahr der Weihnachtsbaum. Also fotografierte ich genau diese Lücke.
Und bei Ihrem eigenen Elternhaus?
Mein Vater hinterließ, kurz bevor er ins Heim aufbrach, einen Stuhl mit vielen Klamotten. Der Kleiderstapel wurde von mir selbstverständlich auch fotografiert – nicht, weil ich eine besondere Bindung zu seiner Kleidung hatte, sondern weil dieser Anblick mich für immer an seinen letzten Tag im eigenen Haus erinnern wird. Das Foto ist für mich der Inbegriff des Abschieds.
Lesetipp: Wie Ursula Ott ihr Elternhaus aufräumte
Wirken leere Zimmer nicht deprimierend auf Fotos?
Für Außenstehende vielleicht. Doch wenn die Angehörigen eine gewisse Tischdecke, eine Spielesammlung oder eine Lampe mit einer persönlichen Geschichte verbinden, reicht ein Foto und ihre Erinnerung wird angekurbelt. Es spielt sich vor ihrem inneren Auge automatisch ein Film ab. Sie betrachten das Foto einer Kaffeekanne - und schon steigt ihnen der Geruch in die Nase, den sie mit gemeinsamen Nachmittagen bei ihren Eltern verbinden.
Haben Sie Tipps, wenn man selbst das Elternhaus fotografieren will?
Nichts hinzufügen, nichts wegnehmen! Schnell kommt einem die Idee, dekorative Blumen irgendwo aufzustellen, um die Inneneinrichtung aufzuwerten. Ich verwende auch kein extra Licht für eine besonders gute Ausleuchtung. Die Deckenbeleuchtung bleibt bewusst aus, da in den Räumen ja auch niemand mehr wohnt. Es hat schon was Verlassenes, aber genau das soll ja gezeigt werden. Die Menschen haben das Haus am Leben gehalten, nicht andersrum. Wichtig ist auch die Perspektive. Für Elternhausfotografie würde ich davon abraten, in der Totalen zu fotografieren. Ein Immobilienmakler geht von Raum zu Raum, weil er die Raumaufteilung als interessant erachtet, während ich mich für Details interessiere. Ich spiele viel mit Winkeln, Einstellungen und dem vor mir stehenden Objekt.
Belastet Sie so ein Treffen?
Natürlich muss ich für die Begehungen ein gewisses Maß an Empathie mitbringen, damit die Menschen nicht das Gefühl kriegen, irgendein fremder Fotograf schießt in ihrem Haus wild Fotos von jeder kleinsten Ecke. Ich habe an Hospiz-Veranstaltungen zum Thema Umgang mit Trauernden teilgenommen und die Quintessenz scheint immer zu sein, das aufkommende Helfersyndrom beiseitezulegen und die Trauernden von sich aus erzählen zu lassen. Ein freundlicher Umgang miteinander kann Wunder bewirken. Aber jeder trauert anders: Die einen beginnen direkt mit der Hausräumung, während die anderen mehrere Monate einen großen Bogen um das Elternhaus machen. Ich hole die Menschen mit meiner Fotografie dort ab, wo sie sind. Und hoffe, dass meine Fotos ihnen helfen, sich besser zu erinnern.