50. Todestag von Oskar Schindler
Schindlers Koffer
Er dealte mit den Nazis und rettete 1200 jüdische Menschen. Warum strandete Oskar Schindler nach dem Krieg im Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main? Am 9. Oktober 1974 starb er. Eine persönliche Annäherung
Der deutsche Industrielle Oskar Schindler trifft 1962 in Israel einige der insgesamt 1200 Juden wieder, die er im Zweiten Weltkrieg vor der Ermordung durch die nationalsozialistischen Machthaber gerettet hatte
In Israel war Schindler ein gefeierter Held. Das Foto zeigt ihn1962 mit Menschen, die er gerettet hat, und ihren Familien
picture-alliance / dpa
Tim Wegner
09.10.2024
8Min

In einem unscheinbaren Wohnhaus mit der Adresse "Am Hauptbahnhof 4" lebte Oskar Schindler von 1965 bis 1974. In der Zeit des Nationalsozialismus rettete er über 1200 Juden vor dem Tod in Auschwitz und anderen Lagern. So steht es auf der Gedenktafel an der Hauswand. Sie wurde 1996 angebracht. 2022 beschloss der zuständige Frankfurter Ortsbeirat, den Bahnhofsvorplatz nach Oskar und Emilie Schindler zu benennen. Der 9. Oktober 2024 wäre ein gutes Datum dafür gewesen. An diesem Tag vor 50 Jahren ist Oskar Schindler gestorben. Doch bislang ist nichts daraus geworden.

Wer war dieser Mann, den Steven Spielberg mit "Schindlers Liste" weltberühmt machte? Warum strandete er nach dem Krieg im Frankfurter Bahnhofsviertel?

Es gab eine Zeit in meinem journalistischen Leben, da ist mir Oskar Schindler sehr nahgekommen. So nah, dass ich abends die Tür zu meinem Arbeitszimmer zumachte, um ihn auf Abstand zu halten. Das war 1999. Ich wohnte mit meinem damaligen Freund Stefan Braun, einem Redakteur der Stuttgarter Zeitung, in Stuttgart. Durch Zufall sind wir mit einem Ehepaar in Kontakt gekommen, das uns von Schindler erzählte. Und von einem Nachlasskoffer, den sie beim Auflösen des Haushalts der Eltern auf dem Dachboden gefunden hatten. Die Eltern seien mit Schindler eng befreundet gewesen, vor allem die Mutter habe ein enges Verhältnis zu ihm gehabt. Sie hatte den Judenretter 1970 am Strand in Tel Aviv kennengelernt. Schindler hatte sich die Füße im heißen Sand verbrannt, sie half mit einer kühlenden Creme. In den letzten Jahren vor seinem Tod verbrachte Schindler immer wieder Wochen und Monate in Hildesheim, hatte sogar ein eigenes kleines Zimmer in der Wohnung des Paares.

Beim nächsten Treffen brachte das Paar den Nachlasskoffer mit. Die beiden wollten, dass wir ihn auswerten und darüber schreiben, damit die Welt erfährt, wie es Schindler nach dem Krieg in Deutschland ergangen ist. Ich hatte 1994 "Schindlers Liste" im Kino gesehen und war beeindruckt. Aber würde sich irgendwer für sein Nachkriegsleben interessieren? Wir bezweifelten es. Der schmucklose graue Samsonite-Koffer mit dem Anhänger "O. Schindler" stand ein halbes Jahr an unserer Garderobe, wir übersahen ihn, anderes war wichtiger. Erst als das Ehepaar drohte, den Koffer dann doch direkt der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zu geben, nahmen wir uns Zeit und öffneten ihn.

Zum Vorschein kamen Hunderte Briefe, von Schindler und an Schindler, geschrieben in den 40er, 50er, 60er Jahren, in München, Buenos Aires und Frankfurt am Main, in Beverly Hills und New York, in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa. Luftpostgrüße aus Israel, Bittbriefe in die USA, nach Bonn und Jerusalem, ein Drehbuch von Metro-Goldwyn-Mayer aus den 1960er Jahren. Dazu vergilbte Versicherungspolicen aus Krakau, Zeitungsausschnitte, Fotos, Lagepläne von Schindlers Fabrik, Urkunden, Pfändungsbeschlüsse. Und: eine Liste mit 1200 jüdischen Namen, mehrfach getippt, mit zahlreichen Durchschlägen – Schindlers Liste. Wir waren überwältigt.

Oskar Schindler wurde 1908 als Sohn eines Fabrikanten in Zwittau im Sudetenland geboren. 1939 kam er ins von Nazideutschland besetzte Krakau. Er war 31 Jahre alt, hatte beste Kontakte zu den Nazis und war auf schnellen Profit aus. 1942 kaufte er eine Emailwarenfabrik, die Geschirr für die Wehrmacht produzierte – ein kriegswichtiger Betrieb. Schindler hatte deshalb das Recht, bei der SS polnische Häftlinge als billige Arbeitskräfte anzufordern. Die Geschäfte liefen bestens.

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Von seinen Arbeitern und Arbeiterinnen waren viele jüdisch. Sie pendelten täglich aus dem Krakauer Ghetto und dem Konzentrationslager Plaszow in seine Fabrik. Was sie – und vor allem sein jüdischer Buchhalter – ihm über die Zustände dort berichteten, veränderte Schindler. 1943 lösten die Nazis das Ghetto auf und 1944 das KZ Plaszow. Schindler bestach die SS mit Geld und Gold, er feilschte mit Amon Göth, dem berüchtigten Kommandanten des Lagers Plaszow, damit die Arbeiter und Arbeiterinnen weiter bei ihm arbeiten durften. Er lud die Nazigrößen in seine Villa ein, trank und feierte mit ihnen – und presste ihnen Zugeständnisse ab. Es war ein heikles Spiel, bei dem er nach und nach alles einsetzte, was er hatte. Auch sein Leben. Dreimal wurde er von der Gestapo verhaftet und unter anderem als Judenfreund und Kollaborateur beschuldigt. Jedes Mal halfen ihm befreundete Offiziere. Als die Ostfront 1944 näher rückte, gelang es Schindler in einer letzten großen Rettungsaktion, seine Fabrik und alle Arbeitskräfte ins Sudetenland zu verlagern. Dafür tippte sein jüdischer Buchhalter die berühmte Liste.

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Wie es den Schindlers danach erging, konnten wir tatsächlich mit Hilfe des Nachlasskoffers rekonstruieren. Wir brauchten Monate und viele Recherchen über den Koffer hinaus, um die vielen Papiere, Briefe und Unterlagen zu sortieren und zu einem Bild zusammenzusetzen. Manches blieb uns rätselhaft. Wir spürten auch einige der "Schindlerjuden" auf, wie sie sich selbst nannten. Einige, die in Deutschland lebten, besuchten wir. Mit anderen in Israel telefonierten wir.

Oskar und Emilie Schindler flohen 1945 in den Westen, lebten einige Jahre in Regensburg. Ende der 1940er Jahre wanderten sie nach Argentinien aus, Mitte der 50er Jahre kehrte Oskar allein nach Deutschland zurück. In Argentinien hatten die Schindlers ihr Glück mit einer Nutriafarm versucht. Nutriapelze standen damals hoch im Kurs. Doch die Sache scheiterte.

In Deutschland beantragte Schindler einen staatlichen Lastenausgleich und bekam 153 000 D-Mark für die verlorene Krakauer Fabrik. Damit kaufte er unter anderem eine Betonfabrik bei Hanau. Auch sie ging bald pleite. Einer seiner Schindlerjuden erzählte uns, dass Schindler eben keinerlei unternehmerische Erfahrung hatte. Die Emailwarenfabrik hatten seine jüdischen Mitarbeiter geführt. Für den Job als Angestellter eignete er sich auch nicht. Als sich Freunde um eine Anstellung für ihn bei der Hoechst AG bemühten, lehnte er dankend ab und schrieb: "Trockene Schreibtischarbeit, Zahlenkalkulation in der Verkaufsabteilung wäre eine Verheizung meiner Möglichkeiten am falschen Platz."

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