Der Evangelische Pressedienst (epd) hat recherchiert, ob die Veröffentlichung der sogenannten ForuM-Studie im Januar viele Menschen dazu gebracht hat, die evangelische Kirche zu verlassen. Das Ergebnis: Die Studie führte offenbar bislang nicht zu signifikant mehr Kirchenaustritten. Die Zahlen sind nicht repräsentativ – der epd hat nur in einigen Großstädten nachgefragt - aber sie könnten innerhalb der Kirche dennoch als Signal zum Aufatmen aufgefasst werden.
Die ForuM-Studie ermittelte für den Zeitraum von 1946 bis 2020 für die evangelische Kirche und die Diakonie 2225 Fälle von sexualisierter Gewalt und 1259 Beschuldigte, davon 511 Pfarrpersonen. Das sei allerdings nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs", sagten die Forscher bei der Vorstellung der Studie.
Das Leid, das die Taten verursacht haben, kann niemand rückgängig machen. In der Vergangenheit haben die Kirchen versagt. Jetzt geht es darum, aus den Fehlern zu lernen und es in der Gegenwart besser zu machen. Das heißt vor allem: den Betroffenen nicht noch mehr Leid zuzufügen. Ihnen muss zugehört und geglaubt werden. Die Landeskirchen müssen alles tun, um die Taten aufzuklären. Und es geht darum, das restliche Vertrauen in die evangelische Kirche, das viele Menschen offenbar noch haben, nicht zu verspielen.
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Was heißt das also für die Hannoversche Landeskirche? Dort fordern Betroffene von sexualisierter Gewalt momentan zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate vehement den Rücktritt von Landesbischof Ralf Meister. Dieser jedoch lehnt bisher alle Rücktrittsforderungen ab.
Die erste Rücktrittsforderung im März stand im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfall in der niedersächsischen Kleinstadt Oesede. Dort tat ein angehender Diakon in den 1970er Jahren mehreren Kindern sexualisierte Gewalt an. Eine der Betroffenen, die sich unter dem Pseudonym Lisa Meyer äußert, machte Landesbischof Meister für Versäumnisse bei der Aufarbeitung des Falles persönlich verantwortlich und forderte deswegen seinen Rücktritt. Im März sagte Meister dazu: "Ich habe nach Abwägung und Gewissensprüfung entschieden, im Dienst zu bleiben." Die Aufarbeitung von Missbrauch sei außerdem "nicht das einzige Thema" der Kirche.
In der Öffentlichkeit schien die Sache damit erledigt zu sein. Innerhalb der Kirche brodelte es aber. Das zeigt ein offener Brief von 200 Pastoren und anderen Mitarbeitenden der Landeskirche, der am Mittwoch veröffentlicht wurde – kurz vor Beginn der Synode der Hannoverschen Landeskirche. Darin heißt es: "Das Verhalten kirchenleitender Verantwortlicher hat unser Vertrauen in die Kirchenleitung beschädigt." Die Verfasser fordern nicht den Rücktritt des Landesbischofs, aber "einen grundlegenden Kulturwandel".
Kurz darauf wurde ein weiteres Schreiben bekannt. Darin fordern vier Betroffene von sexualisierter Gewalt aus dem Bereich der Hannoverschen Landeskirche nun erneut Ralf Meisters Rücktritt. Sie werfen der Landeskirche vor, Täter zu schützen, Hinweisen verzögert nachgegangen zu sein. Kirchengemeinden seien nicht informiert worden und der persönliche Umgang mit den Betroffenen sei "unprofessionell" und "unempathisch". Und zwar auch seit 2010 – Ralf Meister wurde im Jahr 2011 Landesbischof. Die Briefschreiber verweisen auf die ForuM-Studie und die Studie zum Missbrauchskomplex Oesede. Beide Studien haben hervorgebracht, dass dieses "enttäuschende" Vorgehen der Landeskirche "System habe". Die Betroffenen greifen auch Meister persönlich an. Er habe keine Zeit für einen Termin gehabt. Stattdessen habe sein Büro nach Monaten geantwortet, der Landesbischof "habe durchschnittlich 2000 Termine im Jahr zu absolvieren". Für die Betroffenen ist damit klar: "Landesbischof Meister hat die Bedeutung des Themas sexualisierte Gewalt nicht erkannt. Die einzige verantwortungsvolle Option ist der Rücktritt von Landesbischof Meister."
Ralf Meister aber sieht keinen Grund zum Rücktritt und bekommt Rückendeckung von wichtigen Personen in der Landessynode: Sie seien überzeugt "dass Ralf Meister seiner Verantwortung als Landesbischof gerecht wird", bescheinigten ihm enge Mitarbeitende des Bischofs, der Präsident der Landessynode Matthias Kannengießer, das Kollegium des Landeskirchenamtes, der Bischofsrat und der Vorsitzende des Landessynodalausschusses Jörn Surborg. Außerdem leiste die Fachstelle für sexualisierte Gewalt "exzellente Arbeit, bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit", betonte Suborg laut einem Bericht des epd.
Der Bischof selbst sagte dem NDR auf die Frage nach seinem Rücktritt: "Es steht für mich derzeit nicht als die wichtigste Frage im Mittelpunkt." Für die vier Betroffenen, die den Brief verfasst haben, steht sie allerdings im Mittelpunkt. Und genau dieser Punkt, wie mit der Perspektive der Betroffenen umgegangen wird, könnte darüber entscheiden, ob die Landeskirche das noch vorhandene Restvertrauen verspielt. Dass die Sicht der Betroffenen in den Mittelpunkt stehen müsse, ist auch Hintergrund der Forderung nach dem "Kulturwandel".
Die Wahrnehmungen gehen fundamental auseinander: Von der Kirche heißt es: "Die Kirche hat auch noch andere Aufgaben", "der Landesbischof hat 2000 Termine", "die Fachstelle leistet exzellente Arbeit", obwohl die Betroffenen es offensichtlich anders sehen.
Wenn man sich die unterschiedlichen Perspektiven anschaut, kann man durchaus zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Missbrauchsbetroffenen vonseiten der Landeskirche nicht so erhört werden, wie sie es sich wünschen und wie es angemessen wäre. Ihre Perspektive wird infrage gestellt. Ihre Ansichten werden relativiert. Ihre Forderungen werden abgetan. Strukturell wiederholt sich für die Betroffenen hier, was sie immer wieder erlebt habe. Die Kirche, eine machtvolle Institution, stellt infrage und wischt beiseite, was sie erleben und artikulieren.
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Es wäre ein Zeichen für den Beginn eines Kulturwandels, auch ein Zeichen für einen echten Neuanfang, wenn Bischof Meister zurücktreten würde. Das Argument, das Meister bei der Pressekonferenz am Freitag für sein Verbleiben im Amt anführte, überzeugt nicht. Er hatte betont, dass die Landeskirche erst recht mit sich selbst beschäftigt wäre, wenn er zurücktreten würde. Denn dann müsse ein Nachfolger gesucht werden. Das mag stimmen, aber jeder Neuanfang geht mit Verunsicherung einher. Und ein Kulturwandel ist eben nicht einfach so zu haben.
Ralf Meister nimmt mit seinem Verbleiben im Amt in Kauf, dass sich mindestens die vier Betroffenen nun wieder übergangen fühlen und ihr Leid vergrößert wird. Die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD und Präses der Westfälischen Kirche Annette Kurschus hat es anders gemacht. Sie ist im November 2023 von allen Ämtern zurückgetreten, nachdem Betroffene ihren Rücktritt gefordert hatten – obwohl sie sich zu Unrecht beschuldigt sah.
Rücktrittsforderungen Bischof Meister betreffend
Ich stimme den Betroffenen zu, dass die sexualisierte Gewalt innerhalb der Kirche auf Grundlage der ForuM Studie nicht ausreichend berücksichtigt und den berechtigten Forderungen der Betroffenen nicht genüge getan wird.
Was Annette Kurschus betrifft: Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen eingestellt.
https://www.evangelisch.de/inhalte/229147/26-04-2024/kirchenkreis-siegen-wittgenstein-missbrauch-ekd-staatsanwaltschaft-stellt-ermittlungen-ein
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Rücktrittsforderungen Meister - Rücktritt Kurschus
Unglaublich, was da in der Westfälsichen Landeskirche abläuft: Die Meldung über die Einstellung des Verfahrens in Siegen ist der Landeskirche keine Meldung wert. Und der juristische Vizepräsident, auf dessen Rat Kurschus' Rücktritt zurückgeht, ist noch immer im Amt. So geht diese Landeskirche mit Menschen um!
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Wen wundert's,
denn der Staatsanwalt ist befangen. Er möchte doch in den Himmel kommen, und als Wadenbeisser hat er doch keine Chance!
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