Lebenslang im Gefängnis
Wie sieht der Alltag im Gefängnis aus?
Isabel Holst verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Was ist das für ein Leben, hinter Gittern? Wie vergeht der Tag? Das erzählt sie chrismon-Autor Nicol Ljubic
Isabel Holst verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Was ist das für ein Leben, hinter Gittern?
Lucie Langston
Jens Oellermann
Julia Kleinbeck
14.05.2024
12Min

chrismon: Frau Holst*, Sie sind wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden, Sie saßen zehn Jahre im geschlossenen Vollzug und sind seit ein­einhalb Jahren im offenen Vollzug in einer sozialtherapeutischen Einrichtung. Was ist das Schlimmste am Leben im Gefängnis?

Isabel Holst: Das Abgeschnittensein von der Familie, von den Freunden und die Einsamkeit. Ich vermisse meine Familie und Freunde sehr. Das geht hier allen Frauen so. Und doch scheuen sich viele von uns, ihre Angehörigen zu treffen, weil sie nicht wissen, wie sie ihnen ihre Tat erklären sollen. Das, was wir getan haben, ist schwer zu vermitteln. Auch mir fällt es schwer. Ich habe viel kaputt gemacht im Leben meiner Familie, und ich weiß nicht, wie ich es wiedergutmachen kann. Das ist weiß Gott nicht angenehm, es tut weh. Gefühle sind eine sehr schwierige Sache, und wenn man sie zulässt, dann macht man sich verletzlich. Und das fällt uns allen nicht gerade leicht.

Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie?

Ich habe zwei Töchter, die eine will nichts mehr mit mir zu tun haben, die andere lebt weit weg und kommt nur selten zu Besuch. Vor kurzem war sie da, das erste Mal nach zwei Jahren, und sie hatte meinen drei­jährigen Enkel dabei. Wir waren zusammen im Park, später haben wir Pizza gegessen. Das Schönste für mich war, dass mein Enkel mich wieder­erkannt hat. Er hat "Oma" zu mir gesagt. Das hat mich unglaublich gerührt.

Wie haben Sie über all die Jahre Kontakt ­gehalten zu Ihrer Tochter?

Im geschlossenen Vollzug hatte ich ein ­Telefon in der Zelle, man konnte mich zwar nicht anrufen, aber ich konnte – bis auf ­e­inige Nummern, die gesperrt waren – anrufen. Dann gab es natürlich auch die Möglichkeit, einmal im Monat Besuch zu empfangen. Man saß auf harten Stühlen, wurde die ganze Zeit von einem Beamten beobachtet, das ist ­unangenehm, nicht nur für den Besucher, der vorher auch noch durchsucht wird. Sondern auch für mich als Inhaftierte, weil ich meinem Besuch diese Prozedur zumute. Diese Treffen waren immer angespannt. Seit ich im offenen Vollzug bin, ist das wesentlich angenehmer. Wir können uns draußen treffen. Und auch wenn Beamte dabei sind, ist es trotzdem ganz anders, meine Tochter in einer normalen Umgebung zu treffen, in einem Café oder einem Park.

Können Sie beschreiben, was das Gefängnis mit Ihnen gemacht hat?

Für mich war das Glas immer halb voll. Das hat sich im geschlossenen Vollzug sehr geändert, ich bin misstrauischer geworden, verschlossener. Seit ich in der sozialtherapeutischen Einrichtung bin, spüre ich allmählich wieder ein bisschen Optimismus. Man darf nicht vergessen, wir alle, die wir im Gefängnis sitzen, haben Haftschäden.

Papa ist im Gefängnis: Ein Kinderbuch über das Leben im Gefängnis

Was meinen Sie damit konkret?

Wir haben verlernt zu vertrauen und Hilfe zuzulassen. Man sieht nur noch sich selbst und vergisst, dass man keine Insel ist. Im geschlossenen Vollzug ist man fast ausschließlich auf sich selbst konzentriert. Man redet kaum mit den Beamten oder mit anderen Inhaftierten, man hat selten jemanden, dem man sich anvertraut. Man sitzt viel allein in einer Zelle, und der Kopf arbeitet und arbeitet. Ich versuchte, mich in eine glückliche Vergangenheit zurückzuversetzen, versuchte, die Traurigkeit zu verdrängen, bis ich irgendwann aufgegeben habe. Ich konnte nichts mehr ändern, die Tat nicht ungeschehen machen. Meine Reue hilft der Familie des Opfers nicht, und ich war nicht ­fähig, ihr meine Schuld zu beschreiben, und die Schuld lastet schwer. Ich habe meine Trauer und Verzweiflung tief in mir vergraben und darüber geschwiegen. Die Tränen aber ­flossen trotzdem, heimlich, nachts, damit keiner etwas bemerkte. Der einzige Ansprechpartner, den man in seiner Zelle hat, ist man selbst. Und wenn man keine Anregungen von ­draußen bekommt, führt das Gespräch mit sich selbst irgendwann auch dazu, dass man die Fähigkeit, zu kommunizieren, verliert. Man lebt nur noch von Tag zu Tag. Eigentlich ist das kein Leben, sondern eine reine Existenz.

Lesetipp: Was ist Schuld?

Sie haben "lebenslänglich" bekommen. Wie war das, zu wissen, dass Sie mindestens die nächsten 15 Jahre in einer Zelle verbringen werden?

chrismon Spendenabo doppeltgut
doppeltgut
Digitales Spendenabo abschließen und weiterlesen

4 Wochen gratis testen, danach mit 10 € guten Journalismus und gute Projekte unterstützen.
Vierwöchentlich kündbar.

Infobox

Therapie im Gefängnis

Eine besondere Form des Strafvollzugs ist die sozialthera­peutische Abteilung. Sie ist für Inhaftierte gedacht, die eine ­besondere Betreuung brauchen. Meist handelt es sich um ­Menschen, die wegen besonders schwerwiegender Taten ­verurteilt wurden oder die rückfallgefährdet sind. Die Unter­bringung erfolgt in Wohngruppen, die von Psychologinnen oder Psychologen und fest zugeordneten Vollzugsbeamten betreut werden. Die Abteilungen können sowohl im geschlossenen als auch im offenen Vollzug untergebracht sein. Letzteres bedeutet, dass die Inhaftierten in der Regel tagsüber die ­Haft­anstalt verlassen können, um einer Arbeit nachzugehen.

Zum Stichtag 31. März 2023 saßen in Deutschland 41 641 ­Männer und 2590 Frauen in Haft, der Frauenanteil beträgt also rund sechs Prozent. 493 Frauen waren im offenen Vollzug, 109 Frauen zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt.

Permalink

Sehr geehrtes Chrismonteam,
Heute Morgen habe ich ihr Heft durchgelesen und viel Inspiration erfahren und interessante Lebensgeschichten kennengelernt.
Bei dem oben genannten Artikel bin ich allerdings zwiegespalten. Meine erste, Reaktion: " Na toll, wieder ein Artikel über Täter. "
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin kein rachsüchtiger Mensch und Haft, egal wie lange, ist ohne Frage schwer zu ertragen. Aber in den Medien wird so häufig, meiner Meinung nach zu häufig, über die Täter gesprochen und deren Leid. Was ist mit den Opfern und deren Angehörigen und Freunden, deren lebenslanges Leid. Ich habe so einen Fall in der Nachbarschaft selbst erlebt. Vor vielen Jahren, eine junge Frau, 23 Jahre, brutal vergewaltigt und ermordet, von einem Freund, 8 Wochen später von einem Fußgänger im Wald gefunden, der Mittäter kam nach 8 Jahren frei, der Haupttäter nach 14 Jahren. Die Eltern sind ausgewandert, um den Tätern nicht zu begegnen und nicht selbst straffällig zu werden. Seit der Tat, gehen sie durch die Hölle. Jeden Tag.

Natürlich ist es schwierig, Opfer zu finden, die an die Öffentlichkeit gehen möchten. Aber auch Lebensgeschichten kann man anonym erzählen. Es würde vielleicht auch den Tätern helfen, ihre Strafe zu verstehen und zu akzeptieren.

Hochachtungsvoll B. Rudolph-Kull

Permalink

Liebe Chrismon Redaktion,

Vielen Dank für all die lebensnahen, offenen Artikel! Es tut richtig gut in Ihrem Heft zu lesen, vorallem auch über Themen, die sonst eher wenig Beachtung bekommen, von denen ich hier zum ersten Mal gelesen habe. Hier etwa der Bericht der Frau, die im Gefängnis sitzt. Eine Lebensrealität mit der man schließlich doch eher selten zu tun hat.
Ich war fast enttäuscht, als ich das Heft so schnell durchgelesen hatte.

Vielen Dank, herzliche Grüße,
Sigrun Hohl