Ukrainer und ihre Unterstuetzer protestieren am 10. April 2022 gegen eine prorussische Kundgebung auf dem Opernplatz in Frankfurt am Main.
Ukrainer und ihre Unterstuetzer protestieren am 10. April 2022 gegen eine prorussische Kundgebung auf dem Opernplatz in Frankfurt am Main.
epd-bild/Peter Juelich/Peter Juelich (Jülich)
Kann man nach zwei Kriegsjahren optimistisch bleiben?
Wir haben uns an den Krieg gewöhnt
Zwei Jahre – niemand glaubte, dass der Krieg in der Ukraine so lange dauern würde. Glauben die Ukrainer nach all den Verlusten und Tragödien weiterhin an den Sieg der Ukraine? Ich habe sie gefragt. Hier ihre Zitate
privat
20.02.2024

Laut einer neuen offiziellen Studie von Ratinggroup.ua ist die Mehrheit der Ukrainer zuversichtlich, dass die Ukraine einen Angriff der Russischen Föderation abwehren kann (85 %). Doch mangels internationaler Unterstützung sind nur 19 % siegessicher. Die Erwartungen, dass der Sieg mehr als ein Jahr dauern wird, haben zugenommen und sind von 25 % im Juni 2023 auf jetzt 39 % gestiegen. Je älter die Befragten sind, desto positiver sind ihre Erwartungen an den Sieg und die Lage im Land. Als notwendige Bedingungen für den Sieg nennen die Ukrainer erstens eine Aufrüstung, zweitens die Überwindung der Korruption, einen Machtwechsel, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Partnerhilfe und bessere Mobilisierung.

Ich fragte auch die gewöhnliche Ukrainer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Berufe, was sie über den Sieg der Ukraine denken. Ich stellte ihnen allen die gleiche Frage: „Glauben Sie an den Sieg der Ukraine?“. Und das haben sie mir geantwortet:

„Was bedeutet „Sieg der Ukraine“? Für mich ist das die völlige Unabhängigkeit der Ukraine von Russland und die in der Verfassung verankerte Rückgabe aller ihrer Gebiete. Aber ich glaube absolut nicht, dass Russland seine Ambitionen, die Ukraine zu erobern, aufgeben wird. Daher kann der Krieg ewig dauern oder periodisch ausbrechen. Deswegen ist für mich der Sieg der Ukraine erst nach dem Zusammenbruch Russlands möglich, nachdem andere Länder sich geweigert haben, Russland zu unterstützen“ (Ruslan, Dnipro)

„Für mich haben wir schon gewonnen. Erstens haben wir nicht kapituliert, trotz der offensichtlichen Überlegenheit Russlands bei der Zahl der Soldaten und der Zahl der Waffen. Zweitens sind wir kein Aggressorland geworden. Trotz der schrecklichen Verbrechen Russlands gegen die Bürger von Ukraine, als Reaktion darauf stehlen wir ihre Kinder nicht, wir zerstören ihre Infrastruktur nicht, wir vergewaltigen ihre Frauen und Männer nicht, unsere Soldaten waren nie auf russischem Territorium. Wir stehen über Gewalt. Wir töten nicht, wir verteidigen uns” (Swetlana, Charkiw)

„Ich verstehe überhaupt nicht, wie dieser Krieg möglich wurde. Im Dezember 1994 verzichtete die Ukraine auf ihren Atomstatus, stattdessen garantierten Russland, die USA, Großbritannien (und später Frankreich und China) die Sicherheit und Integrität der Gebiete Ukraine. Dieses Budapester Memorandum wurde auf barbarische Weise verletzt. Und jetzt sollten wir überhaupt nicht um Hilfe bitten, die Unterzeichnerländer sind verpflichtet, diese bereitzustellen“ (Anna, Kyjiw)

“Nach zwei Jahren Krieg haben wir keine Illusionen oder naiven Erwartungen mehr. Aber wir haben gelernt, im Krieg zu leben. Wir heiraten, gebären, Kinder gehen zur Schule, Unternehmer eröffnen Bibliotheken und Cafés. All dies – unter Sirenenlärm, während des Todes von Zivilisten nach der nächtlichen Bombardierung der Stadt, während der Mobilisierung von Ehemännern, während der Beerdigung des einzigen Sohn. Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Und das ist das Schlimmste“ (Igor, Tschernihiw)

„Vor dem Krieg besaß mein Mann eine kleine Baufirma. Mein einziger Sohn arbeitete dort auch. Im Jahr 2020 heiratete er, und als der Krieg begann, erwartete seine Frau ihr erstes Kind. Sowohl Mann als auch Sohn meldeten sich freiwillig an der Front. Beide starben. Meine Schwiegertochter konnte diesen Stress nicht ertragen und verlor ihr Kind. Ich träumte von einem Enkel, dies war die einzige Gelegenheit, ein Stück meines Sohnes hier in der realen Welt zu haben. Das wird jetzt nie passieren. Es gibt Tausende solcher Geschichten. Deshalb glaube ich nicht nur an den Sieg der Ukraine, sondern ich bin verpflichtet, an sie zu glauben, um nicht verrückt zu werden. Für mich ist sehr wichtig, nicht nur zu glauben, sondern den Sieg mit meiner Hilfe jeden Tag näher zu bringen, damit der Tod meines Sohnes und Mannes nicht umsonst war“ (Olga, Irpin)

„Ich glaube an den Sieg der Ukraine, aber ich glaube nicht, dass dies bald geschehen wird. Wenn sich die Tendenz dieser beiden Jahre fortsetzt, wird das Ende des Krieges nicht bald sein, weil es keine ernsthaften Wendepunkte gibt. Aber es ist klar, dass langwieriger Krieg sehr beängstigend ist, weil es die Menschen irreparable psychische Schäden zufügt. Und mit welchen Gedanken und Einstellungen zur Welt wachsen Kinder auf? Hinzu kommt der tiefe Konflikt zwischen den im Land verbliebenen Ukrainern und diejenigen, die geflüchtet sind. Das sind schon sehr Fremde zu einander Leute, die einander nicht mögen und nicht verstehen. Und was ist mit Kriegsinvaliden, junge Männer? Ich hasse Russland für das, was es unserem Volk angetan hat. Und je länger dieser Krieg dauert, desto schlimmer wird es für die Bevölkerung werden” (Nastya, Charkiw)

„Jeder Krieg beginnt damit, dass ein Land ein anderes angreift. Das heißt, mit der Tatsache, dass eine große Anzahl von Menschen bereit ist, kriminelle Befehle auszuführen. Sie sind damit einverstanden, unschuldige Menschen und Kinder direkt in ihren Häusern zu töten. Ich glaube an den Sieg der Ukraine, aber dafür mussen die Menschen aufhören, Putins Regime zu unterstützen“ (Lisa, Saporischschja)

„Ich bin kein Expert und es fällt mir schwer, Vorhersagen zu treffen. Aber ich kann sagen, dass die Menschen in der Ukraine im ersten Kriegsjahr sehr geeint und entschlossen waren. Jetzt, am Ende des zweiten Kriegsjahres, wir sind alle einfach sehr müde. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, zwei Jahre lang zu leben und zu wissen, dass eine Bombe in dem Café landen könnte, in dem Sie Kaffee trinken, oder in dem Bett, in dem Sie schlafen und Ihr Kind umarmen? Wie ist es zu leben, wenn man weiß, dass sein Sohn oder Mann jetzt auf dem Feld ist und jeden Moment könnten ihm beide Beine abgerissen werden? Das wissen Sie Gott sei Dank nicht. Und ich hoffe wirklich, dass sich die Politiker beeilen den Krieg in der Ukraine zu stoppen, damit andere Länder nicht leiden“ (Maxim, Cherson)

„Es gewinnt immer der, der mehr Geld und Waffen hat oder der schlauer ist. Deshalb glaube ich nur dann an den Sieg der Ukraine, wenn andere Länder uns wirklich wirksame Waffen in den erforderlichen Mengen liefern können“ (Sascha, Odessa)

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WIR WERDEN ALLE VERLIEREN, wenn wir weiter auf Gewinnen und Verlieren setzen - Diese Welt wird nur weiter existieren, wenn wir endlich anfangen aufzuhören mit Wettbewerb und "Ökonomie" von/zu unternehmerischer Abwägungen, für ein globales Gemeinschaftseigentum und das ganzheitlich-ebenbildliche Wesen Mensch, OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik!!!

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Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum