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Wie ich schon öfter hier erzählt habe: Ich lebe in Hamburg. Von Hamburg nach Helgoland ist es nicht weit, direkt mit dem Katamaran, über Cuxhaven mit Bahn und Seeschiff.
Schon die Reise ist ein Erlebnis. Doch mich hatte das bisher nie gereizt.
Helgoland, das war doch diese langweilige Mini-Insel mit pseudonationalistischer Geschichte (Helgoland gegen Sansibar, Bismarck und Marinehafen, Nazis usw.), wo ich nicht mal richtig wandern kann und wo sich Tagestouristen massenweise mit zollfreiem Schnaps und Zigaretten eindecken?
Tja, immer wieder schön, die eigenen Vorurteile abzubauen. Und das hat nicht nur mit der grandiosen Natur, der guten Luft, den Vogelfelsen, dem feinen Sand auf der Düne und den Robben zu tun, sondern auch mit der Architektur und eben auch mit der wirklich spannenden Geschichte von Deutschlands einziger Hochseeinsel.
Das Museum-Helgoland ist ein wunderbarer Start-Ort. Geleitet wird es vom Kunsthistoriker Dr. Jürgen Fitschen, der ganz wunderbar von der Inselgeschichte erzählen kann; vom historischen Besitzstreit zwischen England, Deutschen Reich und Nachkriegsdeutschland. Vom Ausbau zum Militärhafen unter Wilhelm II., dann unter den Nazis.
Von Werner Heisenberg, der 1925 als 23jähriger auf die Insel kam, seinen Heuschnupfen kurieren wollte und dann die Theorie der Quantenmechanik ausformulierte. Heinrich Heine war hier und Heinrich Hoffmann von Fallersleben komponierte 1841 auf Helgoland das "Lied der Deutschen", dessen dritte Strophe heute die deutsche Nationalhymne ist. Fitschen zitiert den Brockhaus der 1920er Jahre: "Helgoland ist vor Sylt Deutschlands wichtigstes Nordseeheilbad."
Es kam der zweite Weltkrieg und die totale Zerstörung. Helgoland wurde wieder englisch. Um alle Spuren des Nazi-Militärs, den Hafen, wie die riesigen Bunkeranlagen unter der Erde zu vernichten, zündete die britische Armee am 17. März 1947 die größte nichtnukleare Sprengung der Geschichte. Ein Teil der Insel stürzte in sich zusammen, es entstand das Mittelland. Nicht nur dort, sind die Spuren der vielen Bomben heute sichtbar. Auch auf dem Oberland, beim Rundgang zu den Vogelfelsen und der Langen Anna - überall tiefe Krater.
Fitschen erzählt weiter. Vom Anspruch deutscher Nationalisten auf Rückgabe der Insel, vom intensiven Kampf der im Exil lebenden Helgoländer*innen, die unbedingt zurück wollten. Doch was sollten sie auf der Insel machen? Womit ihr Geld verdienen? Schmuggel und Fischerei? Auslaufmodelle. Militär? Nicht mehr erwünscht. Tourismus lautete die naheliegende Lösung. Doch kein Luxus-Tourismus mit Sterne-Häusern, dafür gab es kein Geld in der Nachkriegszeit.
Am 1. März 1952 begann offiziell eine neue Zeit. Sechs Handwerker, so erzählt Jürgen Fitschen, setzten über, in einem Kutter von Cuxhaven. Sie waren die Vorhut für viele weitere Männer und Frauen, die erst den Schutt wegschafften und dann mit Neubauten begannen. Eine hübsche NDR-Doku von 1965 (frei in der ARD-Mediathek verfügbar) erzählt weitere Einzelheiten.
Vorbild Skandinavien. Licht und Luft waren wichtig, dazu versetzte Grundrisse, die beim Spaziergang entlang neue Ein- und Durchblicke gewähren. Fast alle Häuser waren so konzipiert, dass es eine Küche und Bäder im Keller gab: In den tourismusstarken Sommermonaten sollten die Einwohner nach unten ziehen und die Familienwohnung den Gästen überlassen. In den 1970erJahren kamen über 800 000 Touristen pro Jahr auf die Insel.
Immer noch beeindruckend ist der große Wurf, den die Architekten unter der Verwaltung des Landkreises Pinneberg entwickelten. Alles war aus einer Hand und wirkt noch heute so. Gut 300 Entwürfe gingen ein, als der Wettbewerb ausgeschrieben wurde. Bauhaus-Mitdenker Otto Bartning saß in der Jury. Der Hamburger Architekt Georg Wellhausen gewann. Die eigens entworfene Farbpallette für die Fassaden hängt im Museum, und gilt noch heute. Schule, Rathaus, Jugendherberge - großartige Bauten. Helgoland? Ein Fest für Architekturfreunde.
Doch wo alles zu einem Zeitpunkt entsteht, wird auch alles zeitgleich marode. Von der Treppe zwischen Oberland- und Unterland zu den Einfamilienhäusern, dem Museumsbau, der Kirche - zahllose Bauten der Insel müssten renoviert werden. Viele stehen unter Denkmalschutz. Wie soll das funktionieren mit Wärmedämmung und Isolation?
Jürgen Fitschen wohnt in einem der bunten Häuser, auf ca. 49 qm. Etwas anderes hätte er, der seinen Hauptwohnsitz auf dem Festland hat, auch gar nicht bekommen können. Viele Auflagen der Verwaltung schützen die Menschen, die auf Helgoland leben und arbeiten. Nur 1253 sind es noch, berichtet Fitschen.
Kann hier gestoppt werden, was auf Sylt längst geschehen ist? Der Ausverkauf der Insel an die Touristen? Was werden die vielen Windparks mit Helgoland machen? Schon jetzt wird der Blick übers Meer an einigen Stellen durch Windmühlen dominiert. Kommen die Touristen, weil hier alles wie eine Zeitreise in die 1960er Jahre wirkt? Oder bleiben sie genau deshalb weg? Im letzten Jahr waren es nicht einmal 300 000. Vielen Menschen auf der Insel sind besorgt.
Jürgen Fitschen träumt von einem Nordseemuseums-Neubau im Unterland. Auf der Webseite der wunderhübschen James-Krüss-Schule (erbaut 1959) lese ich Geschichten über Sing- und Sportwettbewerbe. Und noch nie wurden so viele Robbenbabies geboren, wie im Winter 2023/24. Und verschiedene Vogelarten gibt es hier, wie an keinem anderen Ort in Mitteleuropa
Wie schrieb Hoffmann von Fallersleben: "Lass die wilden Wogen toben, um den Felsen dort und hier, auf dem Felsen wohn ich droben und der Frieden wohnt in mir.“ Ich komme wieder.
Infos:
Es gibt einen Architekturrundgang auf der Insel und Pauschalangebote, die ebenfalls Architekturführungen beinhalten.